Quelle: HBS
Hintergrund: Die Neue Rechte und ihre taktischen Manöver
Die 'Neue Rechte' ist eine politische Strömung, die sich sowohl inhaltlich als auch in der Strategie zur Verbreitung ihrer Ideen von der 'alten Rechten' abgrenzt. Der Beitrag stellt die Ideologien und Strategien der Neuen Rechten vor, erörtert ihre Beziehung zur AfD und beleuchtet ihre Präsenz im heutigen politischen Umfeld. Wir werfen einen Blick auf ihre Ursprünge, ihre engen Verbindungen zur Konservativen Revolution und der Nouvelle Droite in Frankreich sowie auf ihre gegenwärtige Verankerung in bestimmten Institutionen. Von ihren historischen Wurzeln bis zu ihren aktuellen Strategien – welche Rolle spielt die 'Neue Rechte' im heutigen Diskurs?
Kurzüberblick
Der Begriff 'Neue Rechte' wird in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Teilweise wird er (auch in der Forschung) gebraucht, um unspezifisch verschiedenste Erscheinungsformen rechter Politik in der Gegenwart zu benennen. 'Neue Rechte' wird aber auch in einem engeren Sinne zur Bezeichnung einer bestimmten Strömung der Rechten und ihrer Ideologie verwendet. In beiden Fällen wird die 'Neue Rechte' von einer 'alten Rechten' abgegrenzt, die häufig Assoziationen an den militanten Neonazismus der 1990er Jahre weckt. Ein unverfängliches, seriöses Auftreten (in Sprache, Kleidung, Umgangsformen etc.) wird so häufig als augenfälliges Merkmal der Neuen Rechten herausgestellt. Der Ideologie der Neuen Rechten wird eine Verbreitung über das neurechte Kernmilieu hinaus zugeschrieben. Unter anderem lässt sich ein Einfluss neurechter Programmatik und Diskursstrategie auch in Teilen der AfD nachweisen. Die Neue Rechte diskutiert und propagiert bestimmte Diskursstrategien, deren Kenntnis dabei hilft, das Agieren rechter Akteure im politischen Diskurs zu verstehen. Für einen Überblick zum Auftreten der Neuen Rechten in der deutschsprachigen Twittersphäre siehe den Steckbrief zur Community der Neuen Rechten.
Hintergrund
Mit dem Ausdruck 'Neue Rechte' wird häufig unspezifisch die (radikale) politische Rechte in der Gegenwart bezeichnet, die man mit diesem Ausdruck bewusst von vorherigen Formen des Rechtsradikalismus abgrenzt. In einem engeren Sinne beschreibt der Begriff jedoch (orientiert an gängigen politikwissenschaftlichen Definitionen) eine bestimmte rechte Theorieströmung, die sich ideologisch aus der Konservativen Revolution und der Nouvelle Droite in Frankreich speist und die in bestimmten Institutionen (Zeitschriften, Verlage, Konferenzen) verankert ist. Der Neuen Rechten wird ein Einfluss zugeschrieben, der über den Bereich des eigenen Milieus hinausreiche und der die politische Weltanschauung und Praxisformen auch anderer rechter Gruppierungen und Parteien präge. Insbesondere wird auch für Teile der AfD ein Einfluss von neurechten Ideen und Vorstellungen angenommen. Eine verbreitete Begriffsdefinition des Politikwissenschaftlers Armin Pfahl-Traughber beschreibt die Neue Rechte als „Intellektuellengruppe, die sich insbesondere am Gedankengut der Konservativen Revolution der Weimarer Republik (Ideologie) orientiert, als informelles Netzwerk unterschiedlicher Publizisten (Organisation) besteht und mittels einer 'Kulturrevolution von rechts' den Systemwechsel (Strategie) anstrebt“ (Pfahl-Traughber 2019, S. 8).
Die Bestimmung als Theorieströmung bzw. Intellektuellengruppe macht klar, dass Parteien wie die AfD oder aktivistische Gruppierungen wie die Identitäre Bewegung im engeren Sinne nicht zur Neuen Rechten gezählt werden können, auch wenn Teile ihrer Programmatik und Strategie neurechte Gedanken aufgreifen oder es personelle Überschneidungen gibt. Martin Langenbach und Jan Raabe benennen drei Perspektiven, von denen aus die Neue Rechte beschrieben wurde. 1. wurde sie in Abgrenzung zur 'alten Rechten' gezeichnet, so dass der Begriff hauptsächlich Ausdruck eines „Generationenkonfliktes“ in der deutschen Rechten ist oder einen politischen Modernisierungsprozess des rechten Lagers beschreibt. Dieser Generationenkonflikt reiche bis in die Mitte der 1960er Jahre zurück (vgl. Langebach und Raabe 2017, S. 562ff.). Andere Zugänge sehen die Neue Rechte in Deutschland 2. hauptsächlich als Ableger der französischen Nouvelle Droite (567ff.) oder bestimmen den Begriff und die Strömung 3. in Bezug auf das Verhältnis zum Konservatismus (572ff.). Einflussreich war auch die Charakterisierung der Neuen Rechten von Wolfgang Gessenharter, der die Neue Rechte als ideologisch eigenständige Formation beschrieb, der insbesondere eine „Scharnierfunktion“ zwischen (etabliertem) Konservatismus und deutschem Rechtsextremismus zukomme (vgl. Gessenharter 1994, 1989).
Als Kernelemente der Neuen Rechten können folgende Punkte genannt werden:
- Die Neue Rechte entstand historisch in Abgrenzung zu einer alten Rechten, die in der BRD in der Kontinuität des nationalsozialistischen Regimes stand. Inspirierend im Hinblick auf Theorie wie auch auf Praxisformen wirkte dabei die Rezeption und Reflexion des gesellschaftlichen Erfolges der (studentischen) Linken im Kontext der 1968er Bewegung und in der Folge in den 1970er Jahren.
- Theoriegeschichtlich stellte sich die Neue Rechte in die Tradition der Konservativen Revolution der Weimarer Republik und bezog einen wesentlichen Teil ihrer Vorstellungen aus der Rezeption der Novelle Droite in Frankreich.
- Ein zentraler Baustein neurechter Theorie, der wesentlich aus der Erfahrung der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Dominanz linker Bewegungen seit 1968 resultiert, ist die starke Orientierung auf den 'vorpolitischen Raum'. Das neurechte Konzept der Metapolitik geht auf Grundlage der Rezeption des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci (und seiner Hegemonietheorie) davon aus, dass grundlegende gesellschaftliche Paradigmenwechsel nicht das Ergebnis einer 'von oben' (also von Seiten der Regierungen und Parlamente) vorgegebenen Richtung sein können, sondern eine grundsätzliche Veränderung der staatlichen Politik vielmehr nur auf der Grundlage der Verbreitung und Internalisierung der eigenen Ideologie in der Gesellschaft, insbesondere an Universitäten, in den Medien, im Kulturbetrieb etc., hergestellt werden könne.
- Verankert ist die Neue Rechte im engeren Sinne in bestimmten Institutionen, um die sich ein publizistisches und aktivistisches Milieu spannt. Heute sind hier insbesondere das 2000 gegründete Institut für Staatspolitik und der angeschlossene Antaios-Verlag sowie das neurechte Theorieorgan Sezession zu nennen. Das IfS versucht über die regelmäßig veranstalteten Sommer- und Winterakademien gezielt den rechten Nachwuchs zu prägen und übt mit derartigen Veranstaltungen auch eine zentrale Vernetzungsfunktion im Milieu aus.
- Gesellschaftspolitisch vertritt die Neue Rechte ein traditionalistisches Weltbild, das geprägt ist von der Ablehnung der gesellschaftlichen Liberalisierungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte. Propagiert werden insbesondere ein konservatives Familienbild und Moralvorstellungen, sowie antifeministische und patriarchale Geschlechtervorstellungen. Oft (aber keineswegs immer) sind neurechte Vorstellungen verschränkt mit einem traditionellen Katholizismus. Anders als oft behauptet wird, kann die Neue Rechte nicht generell als islamfeindlich angesehen werden. Vielmehr werden islamische Gesellschaften und islamisch geprägte Milieus in westlichen Gesellschaften für ihre (vermeintliche) traditionelle Lebensart, die sich dem Druck des westlichen Individualismus und der Konsumkultur erfolgreich widersetzten und ihre historisch gewachsene Eigenart bewahren, geschätzt.
Zum Rechtspopulismus steht die Neue Rechte, spätestens seitdem mit der AfD eine populistische Partei als aussichtsreiches rechtes Projekt erschien, in einem Spannungs- und Austauschverhältnis: Denn einerseits werden aus neurechten Kreisen immer wieder auch Kritiken an 'populistischen' Strategien geäußert, andererseits wird der Neuen Rechten oft ein großer Einfluss auf die Strategie- und Programmdebatten der AfD nachgesagt und eine Arbeitsteilung zwischen neurechten Theoriezirkeln und populistischer Massenbewegung und -partei ausgemacht. Klaus-Peter Hufer kommt zu dem Ergebnis, dass „die rechten Intellektuellen [..] den ideologischen Boden [bereiten], auf dem die Populisten agitieren. Die Vordenker liefern die Stichworte und Theoreme, die wiederum in die Programme und Verlautbarungen der populistischen Parteien und Organisationen fließen“ (Hufer 2018, S. 18).
Neurechte Kommunikationsstrategien
Metapolitik
In der Neuen Rechten werden auch Strategien diskutiert und propagiert, die Konsequenzen für das kommunikativ-strategische Handeln rechter Akteure in der gegenwärtigen Lage haben. Die Neue Rechte hat verschiedene kommunikationsstrategische Überlegungen im rechten Lager bekannt gemacht und damit auch die Praxis rechter Akteure in sozialen Medien mitgeprägt. Zunächst ist hier das oben bereits genannte Konzept der Metapolitik zu nennen, das als Basistheorie neurechter Überlegungen zu strategischem Handeln im politischen Diskurs angesehen werden muss. Kerngedanke der Metapolitik ist, dass es für politische Bewegungen nicht ausreiche, das Handeln an der Erringung staatlicher Macht oder parlamentarischen Mehrheiten auszurichten. Um eine tiefgreifende gesellschaftliche Richtungsänderung zu ermöglichen, gelte es vielmehr, dass neurechte Deutungsangebote in Institutionen der Zivilgesellschaft, in der Kunst und Literatur oder kurz: 'in den Köpfen der Menschen' verankert werden müssten. Und dabei geht es, der neurechten Theorie zufolge, nicht primär um die argumentative Überzeugung einer Position oder Programmatik, sondern vielmehr um das emotionale Ansprechen potenzieller Wähler:innen.
Einer der neurechten Vordenker in Deutschland, Thor von Waldstein, schildert die Relevanz der Metapolitik am Beispiel der Bundestagswahlen 1972, bei denen es dem christdemokratischen und konservativen Lager nicht gelungen sei, die metapolitische Dominanz der SPD zu durchbrechen, was der Sozialdemokratie unter Willy Brandt zu einem glänzenden Wahlsieg verholfen habe:
Insgesamt war – über die parteipolitisch gefärbten Verlautbarungen hinaus – eine Stimmung entstanden, bei der jeder Brandt-Gegner schnell in den Geruch kommen konnte, er führe etwas Böses im Schilde. […] In jedem Fall beruhte das Wahlergebnis nicht allein auf einer rationalen Überzeugung des Wählers von der vermeintlich besseren politischen Programmatik der SPD, sondern vor allem auf einer Art kultureller Magnetwirkung zugunsten eines von Brandt verkörperten Lebensgefühls der Linken. Dieser war es gelungen, den politischen Gegner als knöchern, rückständig und potenziell gefährlich hinzustellen, während man sich selbst mit den Federn jung, modern und zukunftsgewandt geschmückt hatte. [… Der Linken um Brandt] war es gelungen, worauf es in der Politik […] zur Erzielung nachhaltiger Erfolge ankommt: nämlich der Masse das unwiderstehliche Gefühl, den Glauben zu vermitteln, man selbst stehe auf der Seite der kommenden Dinge, während der Waggon des politischen Konkurrenten schon längst von der Lokomotive des Fortschritts abgekoppelt worden sei. Wesentlich erschien weiter, daß die konkrete Stimmabgabe des einzelnen SPD-Wählers am Wahltag zeitlich und ursächlich erst ganz am Ende einer Kampagnenkette lag, die Monate, zum Teil sogar Jahre zuvor auf der metapolitischen Ebene eingefädelt worden war.
Waldstein beschreibt hier, was für neurechts inspirierte Akteure die Kernbestandteile metapolitischer Ausrichtung der politischen und kommunikativen Strategie darstellen: Vor den politischen Erfolgen in Staat und Parlament stehe der Kampf um die 'Stimmung' in der Bevölkerung ('Masse'), diese könne nicht in kurzfristigen Kampagnen gedreht werden, sondern erfordere langfristige Zielsetzungen und kontinuierliche politische Anstrengungen; wichtiger als die argumentative Überzeugung sei die emotionale Ansprache. Metapolitik kann somit als eine politische Strategie beschrieben werden, die auf die Herstellung von Diskursdominanz in der Öffentlichkeit abzielt. Die Öffentlichkeit wird hier nicht verstanden als neutrale Arena des demokratischen Meinungsstreites. Vielmehr beschreibt neurechte Literatur die Räume öffentlicher politischer Auseinandersetzung als vorbestimmten Diskursraum, mit durch die 'Mächtigen' streng limitiertem Zutritt, in dem keine faire Debatte um die besseren Positionen stattfinde. Dennoch sei die (medial-vermittelte) Öffentlichkeit der Ort, in dem nicht nur Meinungen ausgetauscht werden, sondern vielmehr tieferliegend für die Masse der Menschen „die Wirklichkeit als solche zusammengebastelt wird“ (Waldstein 2018, S. 17).
Akteure der Neuen Rechten drängen aktuell darauf, metapolitische Vorstellungen und mit ihr einhergehende Praktiken in der AfD (weiter) zu verbreiten. Insbesondere wird von Abgeordneten und weiteren Funktionsträgern der AfD gefordert, das 'Vorfeld' zu fördern und sich keinesfalls von ihm zu distanzieren (Benedikt Kaiser widmete dieser Frage einen Band in der 'Kaplaken'-Reihe des Antaios-Verlages, vgl. Kaiser 2022). Den Erfolg dieser Bemühungen zeigt exemplarisch die Ankündigung eines AfD-Kandidaten für den Bayerischen Landtag im Vorfeld der Landtagswahl 2023 auf Twitter. Dieser versprach, im Falle seiner Wahl in den Landtag "einen grosszügigen Anteil" seiner Abgeordnetendiäten an das politische Vorfeld zu spenden:
Ich erkläre hiermit, dass ich im Falle eines Mandatsgewinnes einen grosszügigen Anteil meiner Abgeordnetendiät patriotischen Vorfeldorganisationen zukommen lasse! Jeden Tag leisten Akteure ausserhalb der Partei wichtige Arbeit für eine patriotische Wende. Ich sehe mich als Teil eines grossen, rechten Lagers bestehend aus der Partei, Kulturangeboten, Medien, Bewegungen sowie Bildungseinrichtungen. Mit meiner Arbeit in der Partei werde ich Heimatliebe und Volksverbundenheit ins Parlament tragen! Mit meinen Spenden unterstütze ich wichtige Projekte, die für einen Politikwechsel nötig sind. Das Vorfeld ist unser Freund, nicht unser Feind! Gemeinsam erreichen wir mehr!
Die Rolle von Social-Media
Wichtig ist die Einschätzung neurechter Vordenker, dass das Internet und insbesondere die Nutzung von Social-Media durch große Bevölkerungsteile ein Durchbrechen der Beschränkungen alter massenmedial geprägter Öffentlichkeiten darstellt. Social-Media ermögliche es, so die Hoffnung neurechter Strategen, die Zugangsbeschränkungen und Limitierungen des Sagbaren im vom Gatekeeper-Journalismus dominierten Raumes zu überwinden und neurechte Deutungsangebote bei breiten Bevölkerungsschichten bekannt zu machen und zu verankern. Es gelte dabei insbesondere, eine „Rückgewinnung einer eigenen Sprache“ zu realisieren, „die auf den elektronischen Marktplätzen formuliert werden kann und die zur Zitadelle der Gegenelite werden muß“ (Waldstein 2018, 72f.).
Es wird im Ergebnis klar, dass dort, wo das Handeln von Akteuren durch metapolitische Gedanken inspiriert ist, ihre strategische Kommunikation, ihre Zielsetzungen wie die Wahl der herangezogenen Praktiken und Techniken, grundlegend bestimmt. Insbesondere die Ausrichtung auf die Herstellung einer erfolgreichen 'Gegenöffentlichkeit' in sozialen Netzwerken kann schon im Zusammenhang mit neurechter Theorieproduktion stehen. Denn diese stellt, den neurechten Einschätzungen zufolge, die notwendige Voraussetzung für die angestrebte 'Kulturrevolution von rechts' dar. Darüber hinaus kann der geschilderte Gedankenkomplex auch generell Hintergrund einer hohen Sensibilität für sprachpolitische Phänomene bei rechten Akteuren sein und von dieser Seite sehr bewusst geführte Kämpfe um Deutung und Bedeutung in sozialen Medien anstoßen.
Provokation, Selbstverharmlosung, Verzahnung
Eine metapolitische Grundausrichtung des kommunikativen Handelns neurechts inspirierter Akteure stellt eine wichtige Rahmenbedingung bei der Analyse des Auftretens von bestimmten Usergruppen in sozialen Medien dar. Aus ihr resultiert die strategische Ausrichtung auf die Herstellung des Ziels einer rechten Deutungshohheit auch und gerade im Bereich der sozialen Medien und die Absicht, diese nicht nur durch rationale oder argumentative Ansprache herzustellen, sondern auch und gerade Angebote zu platzieren, die eine emotionale Ansprache ermöglichen. Das legt das langfristige Ziel strategischer Kommunikationsbemühungen fest und definiert dazu geeignete Arenen. Es sagt aber noch recht wenig dazu aus, welche Mittel in Form von bestimmten Praktiken und Techniken aus Sicht der rechten Akteure dazu geeignet wären, dieses Ziel einer Diskursverschiebung zu realisieren. Auch zur Frage geeigneter Vorgehensweisen wurden im neurechten Debattenzusammenhängen Überlegungen angestellt, die für die Analyse konkreter Handlungen in sozialen Medien höchst aufschlussreich sein können.
Um die Diskussion (aus rechter Sicht) geeigneter Mittel zur Realisierung einer Diskursverschiebung nach rechts präziser einordnen zu können, muss die Einschätzung der politischen Kämpfe durch neurechte Protagonisten verdeutlicht werden. Mit dieser setzte sich Götz Kubitschek in einem Artikel aus der Zeitschrift Sezession aus dem Jahr 2017 (Kubitschek 2017) auseinander. Er reflektierte hier, in welcher Position sich die AfD und die Rechte in Deutschland generell befinden, und welche kommunikativen Strategien in dieser Situation zur Ausweitung der eigenen Sphäre angemessen sein können. 2017 befand sich das ganze rechte Lager in einer großen Aufbruchstimmung, und es stellte sich die Frage, wie die Ausgrenzungsversuche der etablieren Parteien und Medien durchbrochen und weitere Öffentlichkeitsbereiche erobert werden könnten. Kubitschek sieht die AfD und die Rechte mit einer Übermacht in Staat und Gesellschaft konfrontiert, die weitere Ausweitungen rechter Überlegungen repressiv unterbinde. Um voranzukommen und weitere Teile der Gesellschaft zu erreichen, gelte es (ganz in Übereinstimmung mit den oben genannten metapolitischen Grundannahmen) eine „emotionale Barriere“ (Kubitschek 2017: 28) zu überwinden, die die Mehrheitsbevölkerung vom rechten Lager trenne.
Im Wesentlichen beschreibt Kubitschek drei Vorgehensweisen, die Rechte zu diesem Zweck verfolgen können: 1. 'Provokation', die vielleicht generell die erste und typischste Form neurechter Diskurspraxis beschreibt, 2. die 'Selbstverharmlosung', nach der der Text auch benannt ist, und 3. die etwas unbekanntere, aber möglicherweise umso relevantere Strategie der 'Verzahnung'.
Provokation
Die Vorliebe neurechter (und auch rechtspopulistischer) Akteure für Provokationsstrategien wurde häufig beschrieben. Der Rechtsextremismusforscher Helmut Kellersohn bezeichnet in seiner Analyse des neurechten Provokationskonzept die Gruppe um Kubitschek und die 'Konservativ-subversive Aktion' als „Provokationselite von rechts“ (Kellershohn 2010). Aus rechter Perspektive stellen Provokationen eine Strategie gegen dominante Gruppen dar, sie seien, so Kubitschek, „oft das einzige Mittel der Schwachen: [...] Wer keine Macht hat, studiert die Reflexe des Medienzeitalters und erzwingt durch einen Coup öffentliche Wahrnehmung“ (Kubitschek 2019 [2007], S. 23). Für Rechte stellt die Provokation eine Offensivstrategie eines schwächeren Gegners gegen eine Übermacht im Meinungsspektrum dar. In seinem (durchgehend in militärisch-räumlicher Bildlichkeit formulierten) Artikel schreibt Kubitschek, dass Provokation „in Grenzbereichen des gerade noch Sagbaren und Machbaren“ Ausweitungen ermöglichen solle, indem Aufmerksamkeit generiert wird, um
sprachliche oder organisatorische Brückenköpfe zu bilden, zu halten, zu erweitern und auf Dauer zum eigenen Hinterland zu machen. Das ist – ins Zivile übersetzt – nichts anderes als die Schaffung neuer Gewohnheiten. Die Sprache erweitert sich um neue Begriffe, das Argumentationsrepertoire um neue Verknüpfungen, die Wahrnehmung um neue Benennungsmöglichkeiten, und wir würden immer behaupten: Die Wand aus Milchglasbausteinen wird Stück für Stück ersetzt durch blankpolierte Scheiben, durch die man sieht, was draußen wirklich vor sich geht.
Provokationsstrategien beruhen darauf, den politischen Gegner zu übertriebenen und unüberlegten Gegenreaktionen zu verleiten, die dann mediale Aufmerksamkeit sichern und es erlauben, sich selbst als Opfer unfairer Praktiken zu stilisieren. Da so der 'wahre Charakter' der Eliten im Staat und Wirtschaft oder die linke Hegemonie in den Medien sichtbar werde, soll für das unbeteiligte Publikum ein Erkenntnisprozess möglich werden, der für die Rechte die Tür in die Mitte der Gesellschaft öffnen soll. Das Ziel ist, mit einer oft in neurechten Kreisen zu hörenden Formulierung, dass der Gegner „sich zur Kenntlichkeit entstellt“ (Kubitschek 2017: 26). Gerade die Konzeption von Provokationen als gegenhegemoniale Praxis ist vor dem Hintergrund der Rezeption originär linker Protestformen zu sehen, wie sie insbesondere im Kontext der Protestbewegung der 1960er Jahre und später der Neuen Sozialen Bewegungen praktiziert wurden.
Selbstverharmlosung
Provokationen sind Kubitschek zufolge immer mit der Gefahr verbunden, dass Unentschlossene abgestoßen werden und sich der 'emotionale Graben' zwischen Mehrheitsgesellschaft und rechten Anschauungen weiter vertieft. Vor diesem Hintergrund benennt Kubitschek als komplementäre Strategie die Selbstverharmlosung. Es geht hier um die Abwehr von Ausgrenzungsversuchen durch die „Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit“ (Kubitschek 2017: 28). Als Fremdbezeichnung wird dieses Vorgehen auch als 'Mimikry' bezeichnet und in einigen Medien als herausragende Strategie der Neuen Rechten und auch der AfD benannt. Die Annahme strategisch eingesetztem 'selbstverharmlosendem' rechten Sprachgebrauchs geht davon aus, dass hinter der zivilen oder bürgerlichen Oberfläche unveränderte, radikale Inhalte und Gedanken stünden, die durch diese verschleiert werden. Eine vorsichtige, harmlos erscheinende Rhetorik sei die bloße 'Fassade' für die Vermittlung von radikalen und extremistischen Inhalten.
Die Neue Rechte habe sich daher 'eigentlich' inhaltlich und programmatisch gar nicht neu aufgestellt, sondern nur neue Wörter für altbekanntes Gedankengut gefunden (so sei offen rassistisches Vokabular durch harmloser erscheinende 'ethnopluralistische' Semantik ersetzt worden, ohne dass damit relevante inhaltliche Verschiebungen verbunden seien). Ein aktuelles Beispiel für diese Taktik ist die Bezeichnung Remigration für Vertreitung und Deportation.
An der SElbstverharmlosung knüpfen gegen Gegenstrategien gegen rechte Diskurspraxis an, die eine 'Dekodierung' verschleiernder Sprache erzielen wollen: Es gelte, im Umgang mit neurechten Argumenten oder Narrationen aufzuzeigen, welche (radikalen oder extremistischen) Ansichten sich 'hinter' den harmlosen Vokabeln verbergen.
Innerhalb der neuen Rechten ist die Strategie der Selbstverharmlosung umstritten. So betont Kubitschek Gefahren dieser (im rechten Lager und besonders der AfD zirkulierenden) Strategie. Es drohe der Verlust einer klaren, vom 'Mainstream' und seinen Parteien unterscheidbaren rechten Positionierung. Es wird gewarnt vor der Gefahr, dass man sich aus der Verharmlosung nicht mehr wieder lösen könne, was die Neutralisierung des rechten Vorstoßes durch den Mainstream bedeute. Ähnliche Eingemeindungen (ehemals) oppositioneller Positionen habe man zuvor bei den Grünen oder der Linkspartei beobachten können. Und so überrascht es auch nicht, dass in den andauernden Richtungsstreitigkeiten in der AfD die an der Neuen Rechten orientierten Gruppierungen und Verbände gerade konsequent als Gegner der Selbstverharmlosung auftreten und sich einer von den liberalen Parteikreisen um (den inzwischen ausgetretenen) Jörg Meuthen und vor allem in westdeutschen Landesverbänden geforderten 'bürgerlichen' Auftrittsweise verweigern.
Aus sprachwissenschaftlicher und speziell aus diskurslinguistischer Sicht, können Veränderungen des politischen Sprachgebrauchs und der Kommunikationsformen einer politischen Gruppe gar nicht als bloße äußere 'Hülle' eines davon unberührten 'eigentlichen' politischen Inhaltes interpretiert werden. Vorausgesetzt werden hier vom tatsächlichen Sprachgebrauch unterschiedene Inhalte oder Absichten, die die Selbstverharmlosung verhüllen möchte. Jedoch ist aus diskurslinguistischer Perspektive festzuhalten, dass eine Verschiebung des Vokabulars in politischen Diskursen 'die Sache selbst' verändert und so auch andere Wirkungen und Rezeptionsmuster hervorruft. Selbst wenn bestimmte Akteure eine Selbstverharmlosungsstrategie verfolgen würden (was von außen meist gar nicht entschieden werden kann), würde das tatsächlich die politische Positionierung dieser Akteure verändern – und nicht nur ihre sprachliche Verpackung.
Verzahnung
Wir kommen damit zur dritten beschriebenen Strategie, die in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde, sich für das Agieren von rechten Akteuren in Auseinandersetzung mit ihren politischen Gegnern aber möglicherweise umso relevanter erweisen könnte. Die (wieder als militärstrategische Analogie angelegte) Verzahnung benennt Bemühungen, die klaren 'Frontlinien' zwischen der eigenen Gruppe und dem Gegner zu verwischen und Orientierung zu erschweren:
Sprachlich kann man dadurch verzahnend vorstoßen, daß man zitiert und auf Sprecher aus dem Establishment verweist, die dasselbe schon einmal sagten oder wenigstens etwas Ähnliches. Verzahnen bedeutet auch: eine provozierende Sache nie ungeschützt zu unternehmen und nie alleine zu weit vorzustoßen, sondern stets darauf zu warten, daß diejenigen, die nicht weit entfernt sind, den Anschluß halten. Sie verlieren ihn dann, wenn sie keinen Vorteil mehr darin sehen, den gemeinsamen Weg fortzusetzen, und zwar als Teil der Avantgarde, nicht als Teil jener, die irgendwann in die gesicherten Bereiche nachschlurfen.
Dies hat aus rechter Perspektive gesehen den Vorteil, dass die eigene Position vor Ausschluss in Schutz genommen wird, schwieriger zu skandalisieren ist und gleichzeitig Verunsicherung und Irritation beim politischen Gegner entstehen kann, wenn etwa dessen Positionen von rechter Seite aus gelobt werden und übereinstimmende Ziele und Positionen betont werden. Es bietet sich, so die mit der Strategie verbundene Hoffnung, damit die Möglichkeit, eigene Konzepte öffentlich zu positionieren und gegen die Vorherrschaft des 'Mainstreams' sichtbar zu machen, die aber gegen Ausgrenzungsversuche stabiler sind. Ergebnis wären da, wo derartige Strategien Erfolg hätten, Geländegewinne für rechte Positionen und tendenziell ein Abbau der 'emotionalen Barriere' zur Mehrheitsgesellschaft. In diesem Kontext müssen auch herausgestellte Bekundungen der Übereinstimmungen mit den Positionen von linken Personen oder Gruppen interpretiert werden (semantische Aneignung).
Zitierte Literatur:
- Hufer, Klaus-Peter (2018): Neue Rechte, altes Denken. Ideologie, Kernbegriffe und Vordenker. Weinheim: Beltz.
- Pfahl-Traughber, Armin (2019): Der Extremismus der Neuen Rechten. Eine Analyse zu Diskursthemen und Positionen. Wiesbaden: Springer VS.
- Kaiser, Benedikt (2022): Die Partei und ihr Vorfeld. Schnellroda: Antaios (=Kaplaken 81).
- Kellershohn, Helmut (2010): Provokationselite von rechts: Die Konservativ-subversive Aktion. In: Regina Wamper, Helmut Kellershohn und Martin Dietzsch (Hg.): Rechte Diskurspiraterien. Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen. Münster: UNRAST (=Edition DISS 28), S. 224–240.
- Kubitschek, Götz (2017): Selbstverharmlosung. In: Sezession (76), S. 26–28. Online unter https://sezession.de/wp-content/uploads/2018/10/Sez76-Selbstverharmlosung.pdf.
- Kubitschek, Götz (2019 [2007]): Provokation. Dritte Auflage. Schnellroda: Antaios (=Kaplaken 6).
- Langebach, Martin; Raabe, Jan (2017): Die ›Neue Rechte‹ in der Bundesrepublik Deutschland. In: Fabian Virchow, Martin Langebach und Alexander Häusler (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus. Wiesbaden: Springer, S. 561–592.
- Waldstein, Thor von (2018): Macht und Öffentlichkeit. Schnellroda: Antaios (=Kaplaken 53).
- Waldstein, Thor von (2019 [2015]): Metapolitik. Theorie - Lage - Aktion. Schnellroda: Antaios (Kaplaken 46).
Zum Weiterlesen
- Einen Überblick über die Geschichte und Weltanschauung der Neuen Rechten vermitteln die Bücher von Volker Weiß und Thomas Wagner: Wagner, Thomas (2017): Die Angstmacher. 1968 und die neuen Rechten. Berlin: Aufbau.
- Weiß, Volker (2017): Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart: Klett-Cotta.
- Der Verein Courage - Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit e.V. bietet eine Übersicht zu Begriffen, Strategien und Akteuren der der Neuen Rechten: Courage - Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit e.V. (2022): Begriffe und Sprache der Neuen Rechten. Online verfügbar unter Netzwerk-courage.de.
- Thomas Wagner beschreibt die Hintergründe der Provokationsstrategien, derer die Neue Rechte sich bedient: Wagner, Thomas (2020): Die Neue Rechte und die Kunst der Provokation. In: Engel, Daniel / Lanza, Adriana / Meier-Arendt, David (Hg.) Die Neue Rechte. Hintergründe und Hauptelemente neurechten Denkens. Darmstadt: TU Prints.