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Symbolbild 'Argumente', drei Personen mit Sprechblasen

Argumentationsmuster: Rollentausch

Rechte (und auch Unbeteiligte) äußern in sozialen Medien regelmäßig die Annahme, dass die Rechte heute eine gesellschaftliche Funktion übernehme, die 'früher' die Linken innehatten. 'Was früher links war, ist heute rechts...' ist eine These, die auch von dezidiert rechten Akteuren geäußert wird. Dieses Argumentationsmuster des politischen Rollentauschs zwischen links und rechts ist das Thema dieses Artikels, der über die Hintergründe und typische Muster berichtet, in denen uns das Argument in der Online-Welt begegnet.

Kurzüberblick

Im rechten Social-Media-Diskurs ist ein Argumentationsmuster verbreitet, das die Wahrnehmung und Propagierung veränderter gesellschaftlicher Rollen der politischen Linken und Rechten beschreibt. Rechte Akteure gehen häufig davon aus, dass die politische Linke ihren Charakter grundlegend verändert hätte und heute für ganz andere politische Ziele und Interessen eintrete. Insbesondere habe die Linke ihre kapitalismuskritische Ausrichtung aufgegeben und bediene stattdessen mit ihrer Politik des Multikulturalismus oder der Identitätspolitik die Interessen des Kapitals. Sie sei so nicht mehr der Repräsentant der ‚einfachen Leute‘ und insbesondere der Arbeiter, sondern bediene ein materiell gutgestelltes, akademisches Großstadtmilieu. Auch grundsätzlich habe die Linke ihren oppositionellen Charakter gegenüber den herrschenden Verhältnissen in der Gesellschaft verloren und sei vielmehr zu einer verlässlichen Stütze der herrschenden Kräfte geworden. Diese aufgegebenen oppositionellen Positionen besetze nun die politische Rechte und trete dabei die Nachfolge der alten Linken an – auch durch die Übernahme bestimmter ehemals linker Positionen. Die Linke und die Rechte hätten somit ihre politischen Rollen getauscht.

Hintergrund

Vorstellungen eines politischen Rollentausches zwischen Linken und Rechten sind im (rechten) Alltagsdiskurs weit verbreitet und werden in der Social-Media-Kommunikation häufig geäußert. Das Argumentationsmuster wurde auch im Zusammenhang mit neurechten Theorien beschrieben und ermöglicht relevante Einblicke in die Konstruktion der gegenwärtigen Konstellation politischer Kräfte und die Selbst- und Fremdbilder rechter Vordenker. Allen voran beschreibt der neurechte Autor Benedikt Kaiser die aus rechter Sicht zu konstatierende Wesensveränderung der politischen Linken und die damit einhergehenden neuen Spielräume für die Rechte: Mit marxistischer Begrifflichkeit versucht Kaiser darzulegen, dass die gegenwärtige Linke nicht nur ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht habe, sondern darüber hinaus mit diesem zu einem symbiotischen Komplex verschmolzen sei, der die gegenwärtige Gesellschaft präge:

Während der ‚Überbau‘ links erscheint, wird die ‚Produktionsweise des materiellen Lebens‘ durch die ‚Basis‘, also durch die kapitalistischen Strukturen als den verdinglichten Gesellschaftsverhältnissen, vorgegeben. […] Während sich […] im real existierenden Kapitalismus die Kommodifizierung aller Bereiche gesellschaftlichen Alltags vollzieht, die ‚Verwertung des Werts‘ in bisher ungeahnte Räume vordringt und noch die letzte menschliche Regung der Profiterzielung zu- bzw. untergeordnet wird, können linke Akteure den Überbau nahezu widerspruchslos ausgestalten: Ob Gender Mainstreaming, Abtreibungsfanatismus, verschiedene Stufen von Diversity-Fantasien oder der Kampf gegen Rechts: Man hat gewiss Widerstände zu erwarten, aber sie kommen gerade nicht von dem einstigen Hauptgegner einer politischen Linken aus vergangenen Tagen: dem Kapitalismus und jenen von ihm bewirkten respektive gestützten politischen Zuständen.

Kaiser 2019: 6-7.

Machtpolitisch dominiere bei diesem Bündnis weiterhin das Kapital (etwa in Form des Bundesverbandes deutscher Industrie), das auch der wesentliche Treiber hinter den Migrationsbewegungen seit 2015 sei. Das Kapital wisse das linke Eintreten für offene Grenzen und Solidarität mit geflüchteten Menschen („martialisches Gehabe des ‚Refugees-Welcome‘-Aktivismus“) für die gesellschaftliche Vermittlung seines Interesses zu nutzen. Ursächlich für die Politik der offenen Grenzen bleibe aber das ökonomische Interesse und nicht linke Forderungen.

Die (radikale) Linke ist in der Beschreibung Kaisers unfähig dazu, ihre Übereinstimmung mit kapitalistischen Interessen überhaupt zu erkennen. Motiviert durch in der radikalen Linken verbreitete „militante Attitüden“ (Kaiser 2019: 14) suche sich die Linke angesichts ihres (unausgesprochenen) Bündnisses mit den Kapitalinteressen nun „Ablenkziele“, die man umso vehementer bekämpfe, was sich insbesondere am Kampf gegen Rechts zeige. Unter Bezug auf den Psychoanalytiker Erich Fromm und Theodor Adorno werden radikale Linke als ‚autoritäre, konformistische Rebellen‘ charakterisiert.

Für die Rechte ergebe sich aus dieser Konstellation in Kaisers Beschreibung eine ‚Lücke‘, die gefüllt werden müsse. Dabei sollen bewusst auch (alt-)linke Inhalte und Positionen angeeignet werden. Im Ergebnis könne eine stärkere, breiter aufgestellte Rechte in Deutschland entstehen, die den Linken theoretisch und programmatisch weit überlegen sei: „Eine soziale Neue Rechte, die als ‚links‘ wahrgenommene Themenfelder für sich (neu) entdeckt und zeitgemäß-progressiv in ihre Weltanschauung einarbeitet, und die nie aufhört, theoretisch und praktisch zu lernen, sich stetig zu verbessern und zu korrigieren […], ist aufgrund des spezifisch rechten, skeptisch-realistischen Menschenbildes inhaltlich a priori stärker als es im Deutschland des Jahres 2018 jeder theoretisch mögliche linke Akteur wäre“ (Kaiser 2019: 68).

Beispiele und Kontexte

a) ‚Was früher links war, ist heute rechts‘

Das Argumentationsmuster eines politischen Rollentauschs zwischen Linken und Rechten taucht nicht nur im neurechten Diskurs auf. Auch außenstehende (oder vermeintlich ‚unpolitische‘) User äußern die Wahrnehmung veränderter gesellschaftlicher Positionierungen von links und rechts. Häufig kann man Formulierungen finden, denen zufolge das, ‚was früher links war, heute rechts‘ sei.

Hierbei fällt auf, dass die oben beschriebene These einer Verschiebung der Linken hin zu kapitalismusfreundlichen Positionen aus dem neurechten Theoriegebäude durchaus auch in politischen Alltagsdiskussionen im Netz aufgegriffen wird. Ironisch fragt etwa ein User, ob es nicht faszinierend sei, dass linke Interessen „überraschenderweise mit denen von Big Tech, Big Pharma, Regierungen, Milliardären und Medien übereinstimmen“, obwohl Linke doch „gegen das System seien“ (Screenshot 1). Andere wundern sich über eine „Inversion“, die darin bestehe, dass „linke Politik hauptsächlich von wohlhabenden Yuppies betrieben wird, während die Arbeiterklasse nun hauptsächlich rechts“ wähle (Screenshot 2).

  • Screenshot 1
    Screenshot 1: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 2
    Screenshot 2: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 3
    Screenshot 3: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 4
    Screenshot 4: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 5
    Screenshot 5: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 6
    Screenshot 6: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 7
    Screenshot 7: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 8
    Screenshot 8: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 9
    Screenshot 9: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘
  • Screenshot 10
    Screenshot 10: ‚Was früher links war, ist heute rechts‘

b) Rechte (Neu-)Positionierungen

Zum Kern des Argumentationsmusters des politischen Rollentausches gehört, dass die Selbst- und Fremdbilder neu konstruiert werden. Dies ist im rechten Online-Diskurs ist das in vielfältiger Form zu beobachten, und geschieht nicht immer reibungslos. Screenshot 10 zeigt etwa einen Ausschnitt aus einer innerechten Kontroverse zweier Accounts, in dem ein rechter Autor seinem (an neurechten bzw. sozialpatriotischen Positionen orientierten) Kontrahenten vorhält, dass seine Position „rassistisch-altlinksneurechts“ sei, während er sich selbst schlicht als „rechts“ einordnet. Das Aufgreifen ‚altlinker‘ Positionen wird hier von Gegnern im rechten Lager zu einem zentralen Charakteristikum der Neuen Rechten stilisiert. Screenshot 11 zeigt, wie ein rechter User, der sich insgesamt positiv auf die linke Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen!“ bezieht (!), die erfolgreich einen Volksentscheid über die Enteignung privater Wohnungsgesellschaften erreicht hat, Kritik an dieser damit kommentiert, dass der Gebrauch von gendergerechter Sprache („Arbeiter*innenklasse“) belege, dass die Linke sich von den Arbeitern entfernt habe. Diese seien für Linke nur noch „Diskursschablonen“, während (rechte) „organische Intellektuelle“ mit den Subalternen verbunden seien und auf derartigen „Firlefanz“ verzichteten. Ähnlich kommentiert ein Funktionär der Jungen Alternative linke Kritik an „regressivem Antikapitalismus“, indem er behauptet, dass jegliche linke Kapitalismuskritik „oder Revolutionsphantasie […] längst zur Ware geworden“ sei (Screenshot 12). Echter Antikapitalismus bestehe heute in traditionellen Lebensweisen (wie Heirat, Familiengründung oder darin die ‚Ahnen zu ehren‘).

  • Screenshot 11
    Screenshot 11: Rechte (Neu-)Positionierungen
  • Screenshot 12
    Screenshot 12: Rechte (Neu-)Positionierungen
  • Screenshot 13
    Screenshot 13: Rechte (Neu-)Positionierungen

c) Der 'Rollentausch' im Corona-Diskurs

Ein besonderer Kontext, in dem das Argumentationsmuster im Untersuchungszeitraum zu beobachten war, ist die Corona-Pandemie. Die Interessensverschmelzung von Linken und kapitalistischer Wirtschaft wurde hier insbesondere darin gesehen, dass Linke mit ihrer Parteinahme für die Impfkampagne die Interessen der Pharmaindustrie bedienen. So wirft der schon genannte Benedikt Kaiser dem Dietz-Verlag, der sich in einem Tweet positiv auf die Impfkampagne bezieht („Für Impfen. Gegen Reaktion.“) vor, „als konformistische Rebellen“ zu wirken (siehe dazu oben Hintergrund) und „in Schlüsselfragen der Zeit [..] ganz Mainstream“ zu sein (Screenshot 14).

  • Screenshot 14
    Screenshot 14: 'Rollentausch' im Corona-Diskurs
  • Screenshot 15
    Screenshot 15: 'Rollentausch' im Corona-Diskurs
  • Screenshot 16
    Screenshot 16: 'Rollentausch' im Corona-Diskurs
  • Screenshot 17
    Screenshot 17: 'Rollentausch' im Corona-Diskurs

Die Rolle der Bilder - Ikonographie

Das Argumentationsmuster des Rollentauschs wird auch in Form von Memes (Bildern mit Kurztkommentaren) aufbereitet. Das erste Beispiel zeigt die überzeichnete Entgegenstellung einer alten und der heutigen Linken (Screenshot 18). Das zweite Beispiel fasst die behauptete Übereinstimmung der heutigen Linken mit den Interessen des Kapitals und des Staates (Screenshot 19)

  • Screenshot 18
    Screenshot 18: Der 'Rollentausch' in Memes
  • Screenshot 19
    Screenshot 19: Der 'Rollentausch' in Memes

Zitierte Literatur

  • Kaiser, Benedikt (2019): Blick nach links oder: Die konformistische Rebellion. Schnellroda: Antaios (=kaplaken 61).