Quelle: HBS
Schlagwörter: sozial, Solidarität, soziale Frage, solidarischer Patriotismus
In der rechten Twitter-Bubble kursieren auch Begriffe, die normalerweise mit linkem Gedankengut in Verbindung gebracht werden. Dazu gehört zum Beispiel das Wort Solidarität. Dieses Kapitel beleuchtet Versuche von rechts, solche Wörter zu kapern und mit Neuschöpfungen wie "Solidarischer Patriotismus" für das eigene Lager zu werben. Die Taktik, sich als soziale Partei oder Bewegung zu stilisieren, ist innerhalb der Rechten umstritten. Bei linken Usern im Netz führt der rechte Fokus auf die `soziale Frage' mitunter zur Verwirrung. Auch das gehört zur Taktik.
Kategorie: politisches Schlagwort (Lexik)
Verknüpft mit: Semantische An- und Enteignung, Verzahnung, Metapolitik
Diskurscommunities: Alle, Neue Rechte
Version: 0.8 (21.12.2022), Überarbeitung 19.02.2024
Kurzüberblick
Dieser Artikel behandelt Sprachgebrauch rechter Akteure, die sich als 'sozial' inszenieren und dem eigenen Lager oder der eigenen Partei ein 'soziales' Profil verschaffen möchten. Hierbei wird der Gebrauch des Adjektivs 'sozial' sowie der des Begriffs 'Solidarität' betrachtet. Aber auch andere Ausdrücke wie z.B. 'gerecht' oder 'Gerechtigkeit' haben im rechten Diskurs ähnliche Funktionen.
Zu den Grundcharakteristika dieses Sprachgebrauchs gehört es, dass die Ausdrücke, die rechte Akteure in diesen Kontexten verwenden, üblicherweise als 'links' gelten. Der Versuch, diese Sprache und damit verbunden entsprechende Inhalte und Positionen im rechten Spektrum zu verankern, stellt somit eine Form der semantischen Aneignung dar.
Häufigkeitsprofil
Beim Blick auf die Gebrauchshäufigkeiten relevanter Ausdrücke in unterschiedlichen Communities der rechten Twittersphäre zeigt sich, dass 'Solidarität' in allen Gruppen regelmäßig vorkommt. Die Häufigkeiten in den unterschiedlichen Communities zeigen keine großen signifikanten Unterschiede, allein der überdurchschnittliche Gebrauch in der Gruppe der Nativen Onlinerechten und der geringere in der Siff- und Trollbubble fallen auf.
Schaut man sich die Häufigkeitsverteilung bei den Ausdrücken 'Soziale Frage' und 'Solidarischer Patriotismus' an, zeigt sich, dass diese praktisch ausschließlich in der Gruppe der Neuen Rechten gebraucht werden. Dieser Befund erklärt sich dadurch, dass beide Ausdrücke kaum in der öffentlichen strategischen oder politischen Alltagskommunikation gebraucht werden, sondern vielmehr in metakommunikativen und strategisch-programmatischen Kontexten verwendet werden. Wer sich z.B. in den politischen Diskursen 'sozial' positionieren möchte oder dem politischen Gegner 'unsoziale' Politiken vorwirft, verwendet hierbei selten den Ausdruck 'soziale Frage'. Diesen verwendet man, um z.B. darüber zu sprechen, wie man sich im Kontext dieser Frage aufstellen sollte und wie man damit praktisch Geländevorteile im Diskurs realisieren kann – und solche Debatten führt (besonders in sozialpolitischen Fragen) im rechten Gesamtmilieu insbesondere die 'Neue Rechte'.
Kollokationen
Sprachliche Ausdrücke werden in der Praxis in verschiedenen Kontexten und von unterschiedlichen Sprechergruppen mit anderen Bedeutungen verwendet. Um diese unterschiedlichen Gebrauchsmuster beschreiben zu können, ist das Umfeld aufschlussreich, in dem das untersuchte Wort vorkommt. Hierbei ist besonders relevant, mit welchen anderen Ausdrücken das untersuchte Wort besonders häufig (und statistisch überdurchschnittlich oft) gemeinsam verwendet wird. Diese häufige Verbindung zweier Ausdrücke nennt man in der Sprachwissenschaft Kollokation oder Kookkurrenz. Die unten stehende Tabelle zeigt die wichtigsten Kollokationen der Suchausdrücke sortiert nach Signifikanz, also danach, wie stark überdurchschnittlich die Häufigkeit des gemeinsamen Vorkommens ist. Grundlage ist unser User-Korpus, das die rechte Twittersphäre abbildet (genauere Informationen zu unserer Datengrundlage finden sich auf der Seite über das Projekt).
Das Kollokationsprofil des Adjektivs 'sozial' verweist auf unterschiedliche Kontexte, in denen der Ausdruck musterhaft im rechten Diskurs gebraucht wird. Zunächst fallen spezifische Verwendungsweisen auf, die Teil des Sprechens über die Pandemie sind. Die Reduzierung 'sozialer Kontakte' oder die Kritik an 'sozialer Ausgrenzung' Ungeimpfter wurden (auch) im rechten Diskurs zu festen Gebrauchsvarianten. Wenig überraschend ist die Thematisierung 'sozialer Medien' oder 'sozialer Netzwerke', wobei erstere in unserem Korpus in absoluten Zahlen häufiger, die zweite Kollokation jedoch signifikanter ist.
Auf im engeren Sinne politische Verwendungsweisen verweisen Konstruktionen wie die 'soziale Hängematte': Wer den Ausdruck bewusst verwendet, positioniert sich gegen den ('aufgeblähten') Sozialstaat und kritisiert zu freizügige Sozialleistungen. Inkompatibel mit derartigen Sprechpositionen (die typisch sind für sich als wirtschaftsliberal verstehende Teile des rechten Milieus) erscheinen Verwendungsmuster, die die Thematisierung von sozialen 'Problemen' und 'Ungerechtigkeiten' aufzeigen.
Bei den Kontexten, in denen 'Solidarität' verwendet wird, sind primär die Gruppen von Interesse, denen Solidarität gilt: Hierbei tauchen ganz allgemein 'Menschen' (13) auf, aber insbesondere wird (kaum überraschend) Solidarität mit der 'Ukraine' (2) geäußert. Im Kontext der Corona-Pandemie zeigt man sich im rechten Diskurs mit 'Ungeimpften' (17) solidarisch. Interessant ist das häufige Vorkommen des Ausdrucks 'Vorfeld' (15) im Umfeld von Solidarität: Diese resultieren einerseits aus Äußerungen, in denen 'im Vorfeld' zu einem bestimmten Ereignis Solidarität geäußert oder eingefordert wurden. Aber auch die Solidarität zwischen Partei (konkret der AfD) und ihrem Vorfeld wird genannt (und konkret häufig bedauert, dass diese nicht ausreichend vorhanden sei oder praktiziert werde). Hier zeichnen sich konkret sprachliche Muster ab, die aus der in Teilen des rechten Diskurses verbreiten Metapolitik resultieren.
Typische Verwendungsweisen
a) 'Solidarischer Patriotismus' / 'Solpat' als Selbstbezeichnung einer rechten Teilströmung
Die rechte Binnenströmung, die im Social-Media-Diskurs (und darüber hinaus) besonders laut für eine sozialpolitische (und anti-liberale) Ausrichtung des rechten Lagers werben, verwenden 'Solidarität' als Selbstbezeichnung. Mit dem Ausdruck 'Solidarischer Patriotismus' (auch abgekürzt 'SolPat') werden sowohl das gleichnamige Buch des Autors Benedikt Kaiser (Kaiser 2020) in der Zeitschrift Sezession, als auch die Weltanschauung, die hierin umrissen wird, bezeichnet. Zusätzlich wird der Ausdruck vom entsprechenden Milieu als emphatische Selbstbezeichnung verwendet. Neben 'Solidarischem Patriotismus' sind auch die Ausdrücke 'Solidarpatriotismus' oder 'Sozialpatriotismus' im rechten Diskurs verbreitet. Der 'Solidarische Patriotismus' geht davon aus, dass die Soziale Frage das entscheidende Problem der Gegenwart ist und in Zukunft noch bestimmender werden wird. Die Rechte müsse dem Rechnung tragen, habe aber z.B. in Gestalt der AfD, die sich bislang wirtschafts- und sozialpolitisch (neo)liberal aufgestellt hatte, keine überzeugenden Antworten geliefert. Beim Versuch, auf dieses Problem theoretisch und strategisch-programmatisch überzeugende Antworten zu formulieren, bedient der SolPat häufig den Begriff der 'Solidarität'. Die Solidarität, die hier entworfen wird, beschränkt sich weitgehend auf ein ethnisch entworfenes Volk (und beruht z.B. nicht primär auf geteilten ökonomischen Interessen, wie es in konkurrierenden linken Entwürfen oft der Fall ist, die im SolPat gerne rezipiert werden). Als Ziel sozialer Maßnahmen, die der SolPat anstrebt, wird häufig die Befriedung von bestehenden Interessensgegensätzen genannt (und nicht z.B. die Beendigung von Ausbeutungsverhältnissen).
Etwas paradox erscheint die Konstellation, dass die Solidarpatrioten, die sich ja für ein soziales Profil einsetzen und dabei sehr offen für 'linke' Ideen und Sprache sind, in der AfD als besonders rechts stehende Gruppierung gelten (die in den Medien häufig der 'völkischen' Strömung zugerechnet wird). Wer sich in der AfD als Sozialpatriot bezeichnet, bekennt sich zum rechten Rand der Partei und signalisiert gleichzeitig, dass er linken Inhalten besonders offen gegenübersteht. Die Offenheit für die Rezeption und auch Adaption linker Semantik ist kein neues Phänomen, sondern zeichnete auch vorherige Generationen rechter Sozialpolitik aus, an die der Solidarische Patriotismus anschließen möchte. Besonders 'nationalrevolutionäre' Zirkel um Autoren wie z.B. Henning Eichberg (der später auch die politischen Seiten wechselte und sich in der sozialistischen Linken in Dänemark engagierte) sind hier zu nennen, die in den 1960er Jahren mit der alten (nazistischen) Rechten brechen wollten und dabei durchaus auch den Kontakt zur neuen Linken suchten, die sowohl hinsichtlich inhaltlicher Aspekte als auch besonders im Auftreten und den Praxisformen Vorbildcharakter hatten (vgl. Sepp 2013). Es passt daher ins Bild, dass bei Vertreter:innen des Sozialpatriotismus heute besonders oft Verzahnungsstrategien zu beobachten sind, die die Grenzen zwischen rechts und links gezielt unübersichtlich machen (vgl. Screenshot 1).
Im rechten Lager und konkret in der AfD ist der Solidarpatriotismus stark umstritten und das Label trägt zu einer Polarisierung der Selbstverständnisse im aktuellen rechten Diskurs bei.
b) Der Wortgebrauch von 'sozial' im Kontext von Verzahnungsstrategien
Verzahnungsstrategien zielen darauf ab, die Grenzen zwischen den verschiedenen politischen Lagern zu verwischen und die Selbstbilder der politischen Gegner infrage zu stellen. Ausdrücke, mit denen man sein soziales Profil inszenieren kann, bieten sich daher für rechte Akteure hierbei besonders an und werden in diesen Kontexten häufig herangezogen. Screenshot 2 zeigt exemplarisch einen Tweet eines linken Landtagsabgeordneten, in dem dieser 'unsoziale' Maßnahmen der Regierung (die 'im Boot der Konzerne' sitze) anprangert und zu Protest aufruft. Dieser Tweet wird von Benedikt Kaiser, dem wichtigsten Vordenker des aktuellen rechten Sozialpatriotismus, retweetet, was dessen Zustimmung zum Inhalt signalisiert und dem Tweet Reichweite in rechten Twittersphäre verleiht. Zustimmende Retweets von politisch gegnerischen Accounts sind in Teilen der rechten Twittersphäre oft zu beobachten, besonders im Kontext des Sprechens über (un-)soziale Probleme.
Screenshot 3 zeigt den Tweet eines (seines Selbstbildes nach) linken Users, der sich direkt an die „Höcke-Blase“ wendet (die er offenbar als Träger des SolPats auf Twitter ansieht), um zu erfragen, was genau er sich denn nun „KONKRET unter 'solidarischem Patriotismus' vorzustellen“ habe. Für die Reduktion der Migration, die er offenbar als Kern des Konzeptes ansieht, signalisiert er Zustimmung. Die Frage wird direkt von Benedikt Kaiser, dem Autor des zentralen Theoriebuches zum Thema im rechten Lager, beantwortet. Derartige Formen des Dialoges über die Grenzen der politischen Lager hinweg sind ansonsten eher selten zu beobachten. Der Tweet dokumentiert so auch den (partiellen) Erfolg beschriebener Verzahnungsstrategien, insofern das Interesse des Users am Solidarischen Patriotismus zweifellos dadurch getriggert wurde, dass er mit Content in Berührung gekommen ist, der mit dem bisherigen Bild rechter Inhalte nicht in Übereinstimmung zu bringen war.
c) Demonstrative Solidarität (unter Deutschen)
Ein typisches Muster des strategischen Gebrauchs sozialer und solidarischer Semantik durch rechte Akteure sind demonstrative Zuschaustellungen von 'solidarischem' Verhalten. Hierbei werden unterschiedliche Gruppen als von Solidarität Begünstigte entworfen: Im ersten Fall (Screenshot 4) berichtet ein Vertreter der JA / AfD von der Verteilung von Lebensmitteln an Obdachlose in Dortmund durch die lokale Junge Alternative. Bemerkenswert ist es hierbei, dass die Obdachlosen, denen die Aktion zugutekommen soll, als „unsere Leute“ entworfen werden. Hiermit wird (unausgesprochen) ein Kontrast zu Solidaritätsaktionen im Kontext der Flucht- und Migrationsbewegungen nach Deutschland ab 2015 konstruiert: Die etablierten Parteien oder die Zivilgesellschaft habe sich hier für 'Fremde' engagiert, die 'eigenen' Bedürftigen aber vergessen oder bewusst benachteiligt. Mit diesen 'wirklich Bedürftigen', denen die „Corona Politik der Bundesregierung, aber auch ungezügelte Massenmigration […] immer mehr“ zusetze, zeigen sich die Rechten nun solidarisch und präsentieren sich als ihre Vertreter. Dadurch, dass sie sich ethnisch codieren lassen und ihre Bedürftigkeit allgemein anerkannt wird, eigen sich Obdachlose besonders gut, um eine Konkurrenz insbesondere zu Flüchtlingen zu konstruieren.
Der vorangestellte Slogan („SOZIAL ohne ROT zu werden“) wird seit längerer Zeit in der AfD und ihrem Umfeld verwendet. Er verweist auf die Verzahnungspraktiken, in denen er gebraucht wird. Dass man aber überhaupt klarstellen muss, dass man ohne 'rot zu werden' sozial sein will, gibt unter der Hand zu, dass soziale Politik im allgemeinen Diskurs (noch) fest mit der politischen Linken verbunden werden.
Das zweite Beispiel (Screenshot 5) des AfD-Politikers Matthias Helfrich ist ähnlich konstruiert, zeigt aber auch, dass das beschriebene Muster auch in andere Kontexte übertragen und entsprechend ausgefüllt werden kann: Hier zeigt sich der Abgeordnete mit einem vollen Einkaufswagen, den er den Tafeln zur Verfügung stellen möchte. Auch hier wird ein Bild des Mainstreams bzw. konkret der Regierung gezeichnet, die 'eigene' Bedürftige vergisst und sich für die Interessen 'Fremder' einsetzt.
Zum Weiterlesen:
Stephan Pühringer, Karl M Beyer und Dominik Kronberger informieren über die soziale Rhetorik und neoliberale Praxis der AfD:
- Pühringer, Stephan; Beyer, Karl M.; Kronberger, Dominik (2021): Soziale Rhetorik, neoliberale Praxis. Eine Analyse der Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD. Hg. v. Otto Brenner Stiftung (OBS-Arbeitspapier, 52). Online verfügbar unter: Otto-brenner-stiftung.de: Soziale Rhetorik, neoliberale Praxis.
Werner Thole und Stephanie Soman verorten das Konzept des "solidarischen Patriotismus" zwischen nationalkonservativen Neoliberalismus und nationalistisch getönter Kapitalismuskritik:
- Thole, Werner; Simon, Stephanie (2021): Der Kältestrom des „solidarischen Patriotismus“. Über nationalkonservativen Neoliberalismus und nationalistisch getönte „Kapitalismuskritik“ – sozialpolitische Narrative der neuen Rechten. Online verfügbar unter: Researchgate.net - Der Kältestrom des solidarischen Patriotismus.