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Schlagwörter: Kapitalismus, Wachstum, Wachstumskritik

In der rechten Twittersphäre ist 'Kapitalismus' ein zentraler Begriff, der jedoch auch Streit im eigenen Lager provoziert. Kapitalismuskritik ist in radikaleren Kreisen häufig, während die AfD eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik vertritt. Neurechte Bewegungen versuchen, linke Positionen zum Kapitalismus zu kapern und neu zu interpretieren. Während 'Liberalismus' und 'Kapitalismus' als Ursachen für verhasste gesellschaftliche Veränderungen verantwortlich gemacht werden, versuchen einige Akteure der Neuen Rechten, Elemente der linken Kapitalismus- und Wachstumskritik zu integrieren. Welche Strategien und sprachlichen Mittel werden dabei von unterschiedlichen rechten Gruppierungen verwendet?

Kategorie: politisches Schlagwort (Lexik)


Verknüpft mit: Global, Globalisten, Globalisierung; Arbeiter (-Partei, -Klasse)


Diskurscommunities: Neue Rechte, Siff- und Trollbubble, AfD und JF


Version: 0.8 (13.06.2023), Überarbeitung 19.02.2024

Kurzüberblick

'Kapitalismus' ist ein zentraler Begriff in der aktuellen rechten Weltanschauung und im rechten Social-Media-Diskurs. Der Gebrauch des Wortes und die Einschätzung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sind im rechten Lager jedoch sehr uneinheitlich. Teilweise widersprechen sich die verschiedenen Positionen zum Kapitalismus, die im rechten Lager vertreten werden und in rechten Social-Media-Diskursen zu erkennen sind, ganz grundsätzlich. Ein genauerer Blick zeigt, dass sich sowohl die Gebrauchshäufigkeit (und damit die Aufmerksamkeit, die dem Thema beigemessen wird), als auch die mit 'Kapitalismus' verbundenen Wertungen und Positionierungen in den unterschiedlichen Teilcommunities der rechten Social-Media-Öffentlichkeit stark unterscheiden.

Interessanterweise sind gerade die als besonders rechts geltenden Teile des Milieus an kapitalismuskritischen Fragen interessiert und versuchen sozialpolitisch linker Politik Konkurrenz von rechts zu machen, während die Programmatik der AfD und 'gemäßigtere' Parteikreise zumeist ausgesprochen 'neoliberale' Semantiken vertreten. Besonders jüngere Akteure propagieren kapitalismuskritische Inhalte, während Funktionsträger:innen der AfD sich meist zurückhaltender oder dezidiert prokapitalistisch äußern. Auch bei Parlamentarier:innen der AfD dominieren weiterhin wirtschaftsliberale Sprachmuster (vgl. Butterwegge u.a. 2018), während in der Jungen Alternative kapitalismuskritische Tendenzen stark vertreten sind. Auch in der alltäglichen rechten Social-Media-Kommunikation zeichnen sich kapitalismuskritische Muster und Haltungen deutlich ab. Den Kern der „linken Leute von rechts“ stellen Vertreter:innen der Neuen Rechten und von ihr direkt beeinflusste Kreise dar.

Rechte Kapitalismuskritik ist nicht neu. Seit dem Aufkommen der sozialen Frage im 19. Jahrhundert hat es immer wieder auch von rechts Einspruch gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung und mit ihr verknüpfte soziale Veränderungen gegeben. Häufig wollte rechte Kapitalismuskritik die soziale mit der nationalen Frage verbinden. In Zeiten wirtschaftlichen Wohlstandes in der Bundesrepublik verblasste rechte Kapitalismuskritik allmählich, bis sich im rechten Milieu praktisch flächendeckend 'neoliberale' Wirtschaftsvorstellungen durchsetzten. Seitdem wird rechte Wirtschaftspolitik in der Öffentlichkeit meist mit dem Eintreten für den 'freien Markt' verbunden, der von staatlichen Eingegriffen befreit werden müsse. So propagiert auch das bis heute gültige Grundsatzprogramm der AfD noch neoliberale Glaubenssätze: „Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle“ (AfD-Grundsatzprogramm, S. 67). In jüngerer Zeit sind allerdings die kapitalismuskritischen Stimmen in der AfD und im rechten Lager generell stärker geworden. Hierbei wird von entscheidenden Protagonist:innen gezielt versucht, im aktuellen politischen Diskursumfeld als links geltende Positionen zu besetzen und Inhalte anzueignen.

'Kapitalismus' wird im rechten Diskurs nicht nur für Verhältnisse in der wirtschaftlichen Sphäre herangezogen, sondern wird vielmehr mit verschiedensten gesellschaftlichen Erscheinungen verknüpft. Im rechten Social-Media-Diskurs taucht 'Kapitalismus' häufig als Deutungsmuster auf, mit dem bestimmte politische oder gesellschaftliche Phänomene oder Ereignisse in den größeren Kontext einer umfassenden Systemkritik gestellt werden. In neurechter Weltanschauung wird 'Kapitalismus' eng mit dem 'Liberalismus' verbunden, die beide als tiefere Ursache für diverse gesellschaftliche Verfallserscheinungen angesehen werden. Der neurechte Intellektuelle Benedikt Kaiser postuliert etwa, dass die Migrationsbewegungen seit 2015 nicht das Ergebnis der Entscheidungen linker oder grüner Politik gewesen seien. Vielmehr werde die Entwicklung vom "einst so bezeichneten 'Großkapital' in Form von Industrie- und Unternehmerverbänden“ forciert (Kaiser 2019: 11). Kapitalismus und Liberalismus als eigentliche Ursache abgelehnter sozialer Transformationsprozesse werden so zu zentralen Feindbildern im (neu-)rechten Milieu. Viele Neurechte betrachten den Liberalismus und Kapitalismus so als ihre Hauptfeinde, die es zu bezwingen gelte, und nicht etwa die politische Linke.

Im Zuge der (Neu-)Formierung dieser rechten Kapitalismuskritik werden auch systematisch linke Sprache und Inhalte auf die Möglichkeit einer Aneignung von rechts abgeklopft. Neben dem Phänomen, dass diverse linke Autor:innen (die meist eine eher 'klassische' Kapitalismuskritik vertreten) von rechts rezipiert und bestimmte Argumentationen in den rechten Diskurs integriert werden, sind hiervon auch bestimmte Spielarten und Ansätze der Kapitalismuskritik betroffen, die bis vor kurzem in der Öffentlichkeit noch klar als links galten. Die Kritik am Wirtschaftswachstum (sowie Ansätze wie 'Degrowth' oder 'Postwachstum') erscheint aus rechter Sicht als besonders attraktiv, weil die Ablehnung weltumspannender Lieferketten oder die Betonung von Regionalität besonders gut integrierbar erscheinen. Linke Wachstumskritik erscheint kompatibel mit der rechten Ablehnung des 'Globalismus' und wird damit attraktiver Gegenstand rechter Aneignungsversuche. Eine rechte Wachstumskritik wird daher von einigen relevanten Akteuren des rechten Spektrums auch in Social-Media propagiert. Die Analyse zeigt aber schnell, dass es sich hierbei (noch) um ein Randphänomen handelt, das in der rechten Onlinesphäre noch nicht fest verankert ist.

Häufigkeitsprofil

Politische Schlagwörter werden von unterschiedlichen politischen Communities mit unterschiedlicher Häufigkeit verwendet. Dies kommt typischerweise dann vor, wenn ein bestimmter Ausdruck die Weltanschauung oder die politischen Inhalte oder Ziele dieser Gruppe besonders passend oder prägnant ausdrückt. Es kann aber auch vorkommen, dass Ausdrücke, mit denen z.B. politische Gegner oder ihre Ziele und Anschauungen diskreditiert werden, häufig von einer Community verwendet werden. Je weiter außen der Graph bei einer Community steht, desto häufiger wird der entsprechende Ausdruck in dieser Gruppe verwendet. Genauere Informationen zu den verschiedenen politischen Communities und wie diese identifiziert wurden finden sich auf der Übersicht zur rechten Twittersphäre).

Besonders der Ausdruck 'Kapitalismus' wird von den verschiedenen Communities der rechten Twittersphäre mit unterschiedlicher Häufigkeit verwendet. Hier ragt besonders die Neue Rechte mit einem hohen Wert heraus. Hintergrund ist hier, dass speziell in dieser Community Formen der rechten Kapitalismuskritik diskutiert werden, die in den neurechten Strategieplanungen eine wichtige Stellung einnehmen. Im Vergleich dazu wird der Ausdruck in den Gruppen der Corona-Kritiker und der Nativen Onlinerechten nur selten verwendet. Dies resultiert primär aus einem engeren Themenspektrum, das in den Online-Debatten vorkommt. Die Debatten drehen sich stärker um tagespolitische Themen, die seltener in grundsätzliche politische Weltanschauungen eingeordnet werden. So wird hier z.B. die Corona-Pandemie und die staatliche Maßnahmenpolitik kaum im Kontext einer grundsätzlichen Systemkritik betrachtet, wie es an anderen Stellen im rechten Diskurs der Fall ist. Erwähnenswert sind auch die auffällig niedrigen Frequenzen, die 'Kapitalismus' im AfD-Milieu zeigt. Auch hier spielt 'Kapitalismus' (weder in kritischer Absicht noch als positiv gewertetes Fahnenwort) keine große Rolle. Plakativ formuliert könnte man sagen, dass sich große Teile der AfD für den Kapitalismus nur wenig interessieren und dieser für das politische Selbstverständnis vieler Akteure (positiv wie negativ) keine große Rolle spielt.

Bei der Häufigkeitsverteilung von 'Wachstum' zeigt die Gruppe der Corona-Kritiker die höchsten Werte. Der Grund hierfür ist, dass der Gebrauch des Ausdrucks im Untersuchungszeitraum durch das Sprechen im Kontext der Corona-Pandemie dominiert wurde und das Sprechen über das Wirtschaftswachstum quantitativ betrachtet in den Hintergrund getreten ist. Nichtsdestotrotz lassen sich strategische Versuche, Wachstumskritik von rechts anzueignen und öffentlich zu positionieren im Diskurs beobachten (vgl. unten).

Kollokationen Kapitalismus

  • Abbildung 1 Kapitalismus
    Abbildung 1 Kollokationsprofil Kapitalismus

Sprachliche Ausdrücke werden in der Praxis in verschiedenen Kontexten und von unterschiedlichen Sprechergruppen mit anderen Bedeutungen verwendet. Um diese unterschiedlichen Gebrauchsmuster beschreiben zu können, ist das Umfeld aufschlussreich, in dem das untersuchte Wort vorkommt. Hierbei ist besonders relevant, mit welchen anderen Ausdrücken das untersuchte Wort besonders häufig (und statistisch überdurchschnittlich oft) gemeinsam verwendet wird. Diese häufige Verbindung zweier Ausdrücke nennt man in der Sprachwissenschaft Kollokation oder Kookkurrenz. Die unten stehende Tabelle zeigt die wichtigsten Kookkurrenzen der Suchausdrücke sortiert nach Signifikanz, also danach, wie stark überdurchschnittlich die Häufigkeit des gemeinsamen Vorkommens ist. Grundlage ist unser User-Korpus, das die rechte Twittersphäre abbildet (genauere Informationen zu unserer Datengrundlage finden sich auf der Seite über das Projekt). 

Die Kollokationen von 'Kapitalismus' verweisen auf sehr unterschiedliche, teils mit entgegengesetzter Wertung einhergehende Verwendungsmuster im rechten Diskurs: 'Kapitalismus' wird häufig gemeinsam mit Gegenbegriffen wie 'Sozialismus' (1) oder 'Kommunismus' (8) thematisiert und er wird mit benachbarten Konzepten wie 'Marktwirtschaft' (4) oder 'Marktgesellschaft' (23) verknüpft. Der Kapitalismus wird wenig überraschend mit 'Profit' (18) und 'Geld' (20) in Verbindung gebracht und es wird über die 'Krise' (9) des Kapitalismus gesprochen, aber auch mit im rechten Diskurs als Feindbilder zirkulierenden Konzepten wie 'Multikulturalismus' (21) und 'Liberalismus' (26) verknüpft. Auffällig sind stark wertende Kollokationen, an denen die Positionierung der Akteure zum Kapitalismus zu erkennen ist. Hierbei sind sowohl positiv wertende wie auch ablehnende Kontexte erkennbar: Wer Kapitalismus mit 'Wohlstand' (6) verbindet oder ihm zuschreibt, dass er 'Luxusgüter' (2) verfügbar mache, gibt sich direkt als sein Befürworter zu erkennen und schirmt ihn von Kritik ab. Andersherum werden auch stark ablehnende Gebrauchskontexte erkennbar, etwa wenn 'unmenschlich' (10) oder 'Armut' (25) im Kontext auftauchen. Interessant sind auch Gebrauchsmuster, bei denen Kapitalismus als Ursache bestimmter konkreter Phänomene adressiert wird, an denen der Kapitalismus 'schuld' sei (12). Stark präsent sind auch Kollokationen, die auf das Sprechen über die Abschaffung des Kapitalismus verweisen ('überwinden', 'abschaffen', 'Überwindung') – hierbei muss beachtet werden, dass sowohl zustimmend die Formulierung politischer Ziele, als auch die abwertende Beschreibung der Aktivitäten politischer Gegner (die den Kapitalismus 'abschaffen' wollen) hier einfließen.

Aufgrund der gegensätzlichen Verwendungsweisen, die hier deutlich werden, ist es aufschlussreich sich anzuschauen, wie 'Kapitalismus' in unterschiedlichen Communities eingeordnet wird. 

  • Abbildung 2 Kapitalismus
    Abbildung 2 Kollokationsprofil Communities

Auffällig ist hierbei besonders, dass in der Neuen Rechten Verwendungsmuster überwiegen, die eine ablehnende Haltung zum Kapitalismus und die Thematisierung seiner Abschaffung bzw. Überwindung erkennen lassen. Dies ist ganz anders, wenn man sich die Kollokationen der Communities Native Onlinerechte und Liberal-Konservative (die den Ausdruck deutlich seltener verwenden, vgl. oben) anschaut: 'Kapitalismus' wird hier vor allem in Kontexten verwendet, in denen er als Garant oder Ursache von 'Wohlstand' (8) und diversen Konsumgütern (1,2,5) erscheint.  

Typische Verwendungsweisen

a) Rechte Kapitalismuskritik

  • Screenshot 1 Twitter
    Screenshot 1
  • Screenshot 2 Twitter
    Screenshot 2
  • Screenshot 3 Kapitalismus
    Screenshot 3
  • Screenshot 4 Kapitalismus
    Screenshot 4

Kapitalismuskritische Äußerungen von rechten Akteuren lassen sich in sozialen Netzwerken häufig beobachten. Dies geschieht in vielfältiger Form. Die Screenshots 1-4 verdeutlichen typische Konstellationen:

Screenshot 1 zeigt, dass auch im rechten Social-Media-Diskurs (und nicht nur in der analogen Theoriepublizistik) metasprachliche und diskursstrategische Überlegungen formuliert und Debatten geführt werden, die auf die Ausrichtung und Positionierung des Lagers zurückwirken. Erwähnenswert ist hier zunächst die hohe Aufmerksamkeit, die Aspekten des politisch-strategischen Sprachgebrauchs gewidmet wird. Die Anerkennung der Herrschaft des politischen Gegners über einen bestimmten Begriff wird als Anlass dazu aufgefasst, den Begriff für das eigene Lager verfügbar zu machen und nicht etwa, diesen abzuwerten. Bemerkenswert ist weiterhin, wie die politische Zugehörigkeit des Sprechens über Kapitalismus konkret konstruiert wird. Hierbei wird anerkannt, dass Kapitalismus 'über Jahrzehnte hinweg' ein 'Flaggenthema' der Linken gewesen sei. Die Zugehörigkeit zur Linken Sprache sei jedoch das Ergebnis davon, dass die Linke das Thema 'okkupiert' habe (und nicht etwa a priori an die Fundamente linker Politik geknüpft). Hier wird eine umgekehrte semantische Aneignung konstruiert, und der Versuch, das Thema und den Begriff von rechts zu besetzen, erscheint nur als Antwort darauf.

Screenshot 2 dokumentiert eine für die Social-Media-Kommunikation typische Interaktion, in der die Kontroversen um den Kapitalismus innerhalb des rechten Lagers deutlich werden. Ein eher bürgerlich bzw. liberal positionierter Autor äußert sich zu Krisenphänomenen auf den Finanzmärkten. Ein Protagonist des neurechten Lagers wirft ihm vor, dass er diese Tendenzen nicht dem Kapitalismus zurechnet. Mit beiden Positionen gehen also auch unterschiedliche Interpretationen des Phänomens einher: Im einen Fall wird die Bankenkrise als Ergebnis des Fehlverhaltens bestimmter Menschen interpretiert, während sie im zweiten Fall als Argument für die Notwendigkeit eines grundlegenden Umschwungs weg vom 'kapitalistischen Gesellschaftssystem' dient.

Die Screenshots 3 und 4 zeigen typischen Gebrauch des Ausdrucks in alltäglichen Social-Media-Interaktionen: Eine Tagesschau-Meldung, in der eine Beeinflussung der Gesetzgebung in der Pandemie durch Labormediziner angedeutet wird, wird zum Anlass für eine ironische Kommentierung durch einen User. Auch hier wird artikuliert, dass die in der Medienberichterstattung zum Ausdruck kommenden Probleme nicht isoliert zu betrachten, sondern systemisch mit dem Kapitalismus verwoben seien. 'Kapitalismus' liefert also auch hier ein Deutungsmuster, das zur Einordnung konkreter Probleme oder Missstände herangezogen werden kann und den angestrebten Systemwechsel plausibel machen soll. In ähnlicher Art und Weise wird im Screenshot 6 von einem rechten Account der Berichterstattung des öffentlichen Rundfunks vorgeworfen, „die Lügen der Kapitalisten“ zu reproduzieren.

b) Rechte Antikapitalismuskritik

Kapitalismuskritische Äußerungen (nicht nur, aber besonders von rechten Akteuren) rufen regelmäßig Widerspruch im rechten Diskurs hervor. Diese sind häufig eine Reaktion auf kapitalismuskritische Äußerungen innerhalb des rechten Gesamtmilieus, seltener werden prokapitalistische Positionen initial gepostet. Screenshot 5 zeigt exemplarisch Kritik am rechten Antikapitalismus, wie sie häufig von Autoren geäußert wird, die wirtschaftspolitisch neoliberale Ideen propagieren. Auffällig ist hierbei, dass dem rechten Antikapitalismus (der hier mit dem Lager in der AfD um Björn Höcke identifiziert wird) vorgeworfen wird, dass er sich auf Autoren wie Marx oder den linken Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty beziehe, dass er also linke Inhalte verbreite. Hier wird die Konfusion der politischen Kategorien links und rechts deutlich, die sich vor dem Hintergrund semantischer Aneignungsstrategien gegenwärtig an verschiedenen Stellen beobachten lassen. Screenshot 6 zeigt die Facebook-Reaktion eines führenden AfD-Politikers auf ein Posting, in dem das Auftreten von Rechten aus dem Umfeld der Jungen Alternative mit antikapitalistischen Parolen bei einer Demonstration abbildet. Auffällig ist, dass der AfD-Politiker hier ganz offen die fundamentalen Differenzen sichtbar macht ("Habt ihr einen an der Waffel?"), die sich an der Frage des Kapitalismus zeigen. Dass hier nicht einmal mehr versucht wird, nach außen die Fassade einer geschlossenen Partei zu erhalten, zeigt deutlich, wie tief die Gräben zwischen den unterschiedlichen Fraktionen in dieser Frage sind.

  • Screenshot 5 Kapitalismus
    Screenshot 5
  • Screenshot 6 Kapitalismus
    Screenshot 6

c) Wachstum und Wachstumskritik im rechten Diskurs

Eng an die Kontroversen um 'Kapitalismus' gekoppelt, wird im rechten Lager auch über (wirtschaftliches) 'Wachstum' und 'Wachstumskritik' gestritten. Positive Bezugnahmen auf das Wirtschaftswachstum als politisches Ziel gibt es jedoch praktisch ausschließlich als Gegenposition zu wachstumskritischen Äußerungen im eigenen Lager. Ausnahmen hierzu sind in letzter Zeit Äußerungen, die sich gegen eine 'wachstumsschädliche' Politik der Regierung wenden, insbesondere im Kontext der Maßnahmen zum Klimaschutz.

Typische Vertreter:innen rechter Wachstumskritik sammeln sich um die neurechte Ökologiezeitschrift 'Die Kehre', die sich immer wieder mit wachstumskritischen Fragen beschäftigt. Die Kehre ist auch der zentrale Ort für programmatische und strategische Debatten zur Wachstumskritik im rechten Diskurs, womit das Thema auch im dezidiert neurechten Lager angesiedelt ist und von diesem propagiert wird.

  • Screenshot 7 Kapitalismus
    Screenshot 7 Wachstumskritisches Posting der 'Kehre'

Screenshot 7 stellt ein Beispiel für einen Tweet dar, bei dem sich die 'Kehre' wachstumskritisch positioniert. Anlass ist ein Medienartikel, der sich mit rechter Wachstumskritik beschäftigt. Typisch ist hierbei einerseits, dass der kritisch intendierte Artikel des Cicero offensiv aufgegriffen und als „Ungewollte Lese- und Kaufempfehlung“ selbst weiterverbreitet wird. Die Akteure bewerten die reichweitenstarke Thematisierung ihrer Inhalte trotz der ablehnenden Haltung des Artikels offenbar nicht als Problem, sondern sie scheint ihnen eher gelegen zu kommen – ihre Inhalte erreichen so ein Publikum, das ihren eigenen Veröffentlichungen verschlossen bleibt. Mit den im Artikel formulierten Zweifeln an der politischen Zuordnung der Wachstumskritik („Wie braun ist die Wachstumskritik?“) kann von rechts die Hoffnung auf einen Beitrag zur Lösung der Wahrnehmung aus dem linken Themenspektrum in der öffentlichen Wahrnehmung verbunden werden (Verzahnung). Typisch ist auch der hier gewählte Sprachgebrauch, bei dem mit dem Adjektiv „wahr“ der eigene Ansatz konkretisiert und von anderen Formen der Wachstumskritik abgegrenzt wird. Die Neurechten inszenieren sich hier als authentische Vertreter der Kritik an kapitalistischem Wachstumslogik, was impliziert, dass es auch 'nicht-authentische' Formen der Wachstumskritik geben muss, die selbstverständlich unausgesprochen mit dem politischen Gegner identifiziert werden. Derartige Formulierungen zeigen an, dass die politische Zuordnung der Wachstumskritik vakant ist – und dass die Verfasser des Tweets genau das bewusst bezwecken.

  • Screenshot 8 Kapitalismus
    Screenshot 8

Ganz analog zur rechten Kapitalismuskritik ist auch Wachstumskritik im rechten Diskurs hoch umstritten und ihre dezidierten Vertreter:innen besetzen eine (lautstarke) Minderheitsposition. Dass die Wachstumskritik auch immer wieder Anlass für Kontroversen und Konflikte bietet, zeigt Screenshot 9 exemplarisch.

  • Screenshot 9 Kapitalismus
    Screenshot 9

Zitierte Literatur

  • Alternative für Deutschland (2016): Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland. Online verfügbar unter https://www.afd.de/wp-content/uploads/2017/01/2016-06-27_afd-grundsatzprogramm_web-version.pdf.
  • Butterwegge, Christoph; Hentges, Gudrun; Wiegel, Gerd (2018): Rechtspopulisten im Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD. Frankfurt: Westend Verlag.
  • Kaiser, Benedikt (2019): Blick nach links. Oder: die konformistische Rebellion. Schnellroda: Antaios (=Kaplaken, 61).
  • Sepp, Benedikt (2013): Linke Leute von rechts? Die nationalrevolutionäre Bewegung in der Bundesrepublik. Marburg: Tectum.

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