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Symbolbild 'Handlungen', ein Plenum mit einer Sprechblase

Handlungsmuster: Beispielanalyse: #Stolzmonat

Beim jährlich im Juni stattfindenden Pride Month feiert die Queer-Community und wirbt – auf Social Media wie offline – für mehr Toleranz für sexuelle Minderheiten. Auch Akteure wie staatliche Institutionen oder Unternehmen beteiligen sich am Pride Month und demonstrieren öffentlich ihre Solidarität. 2023 wurde der Pride Month in Sozialen Netzwerken (besonders Twitter) im deutschsprachigen Raum durch das massenhafte Auftreten von Postings aus dem rechten Lager begleitet (und teils überlagert), in denen die Nationalfarben dominieren und der 'Stolz' auf die Nation gefeiert wird. Diese Tweets verwenden als gemeinsames Hashtag '#Stolzmonat' (oder auch '#stolzstattpride' oder '#hartaberstolz') und stellen ein echtes Massenphänomen dar: In den ersten Tagen wurde '#Stolzmonat' bereits über 80.000 mal im Netzwerk verwendet und führte zeitweilig die deutschen Twittertrends an. Rein zahlenmäßig ließ der Stolzmonat den Pride Month in den Hintergrund treten. Das war kein Zufall, sondern die Idee erfahrener Online-Aktivisten aus der rechten Szene, welche die Dynamik im Netz zu nutzen wussten.

Hintergrund

Wir betrachten den Stolzmonat hier als Beispiel für den strategischen Einsatz von Hashtags in einer Ad-Hoc-Analyse: Wie ist der Stolzmonat entstanden, welche Akteure beteiligen sich, warum konnte er so erfolgreich werden? Da beim Verfassen des Textes das Phänomen noch nicht abgeschlossen war, haben die Aussagen, die wir hier formulieren können, vorläufigen Charakter.

Der relevante Zeitraum wird durch die regulären Korpora, mit denen Re-DiSS arbeitet, nicht abgedeckt. Diese Analyse beruht daher auf einer manuell zusammengestellten Sammlung von Tweets, die sich am #Stolzmonat beteiligen. Insbesondere zum Nachvollzug der quantitativen Dynamiken wurde auch ein maschinenlesbares Korpus erstellt. Hier wurden am 02.06.2023 über die Twitter-API ca. 29 000 Tweets erhoben. Einziges Kriterium war hierbei das Vorkommen der Zeichenketten "Stolzmonat" oder "hartundstolz". Die Daten wurden für die Analyse mit corpuslinguistischen Tools aufbereitet und mit dem Corpusexplorer (Rüdiger 2022) analysiert (mehr zur methodischen Konzeption von Re-DiSS).

Wie entstand #Stolzmonat?

Die Entstehung des Phänomens Stolzmonat lässt sich recht gut rekonstruieren: Ausgangspunkt war ein Posting des Accounts der AfD-Ratsfraktion Wuppertal vom 25. Mai 2023. Dieses kommentiert den bevorstehenden Pride Month ironisch mit der Ankündigung, dass man beim 'Stolzmonat' mitmachen werde und „gemeinsam unsere Farben“ schwenken wolle. Das angehängte Bild zeigt das Profilbild und Logo der Wuppertaler AfD Ratsfraktion vor einem Hintergrund in Nationalfarben, womit die Farben der Pride-Flag und ihre Rolle im Pride Month karikiert werden. Die Benennung als 'Stolzmonat' folgt einem Muster des subkulturellen (rechten) Netzjargons, bei dem Anglizismen wortwörtlich ins Deutsche übertragen werden (analog z.B. auch 'basiert' für based, 'pfostieren' für posten usw.). Vorangestellt ist dem Posting eine Zeile aus dem bereits 18 Jahre alten Track 'Neue Deutsche Welle' des Deutschrappers Fler („Das ist Schwarz – Rot Gold – Hart und Stolz!“).

  • Screenshot 1 Stolzmonat
    Screenshot 1

Dieses initiale Posting weist bereits diverse Merkmale der rechten Netzkultur auf, die später für Postings zum 'Stolzmonat' charakteristisch werden, wie etwa die Verwendung von Ironie und der Hang zum Lächerlichmachen des politischen Gegners oder die Bezugnahmen auf Popkultur und konkret Rap. Damit entspricht das Posting sicherlich nicht den Merkmalen der Social-Media-Kommunikation von lokalen AfD-Gruppen, war aber wohl gerade dadurch erfolgreich.

In ähnlichen Postings lässt sich der Ausdruck bzw. das Hashtag auch in den vorigen Jahren nachweisen, blieb dabei jedoch immer Einzelphänomen. Dies wäre er wohl auch 2023 geblieben, wenn nicht Fler auf das Posting der AfD-Ortsgruppe reagiert hätte. Dieser postete am 26. Mai einen Screenshot des AfD-Postings, in dem er sich von der Partei wie von seinem eigenen Song distanzierte:

Werde den Song ab jetzt nie wieder Live spielen…Es gibt einfach zuviele Spinner ausserhalb der "Subkultur-Hiphop" die meinen Text für ihren Blödsinn verwenden. Hätte ich den Song mal nicht gemacht 😤

@FLER 26. Mai 2023, twitter.com

Im Nachgang kündigte er noch an, anwaltlich gegen die Verwendung seines Songtextes vorgehen zu wollen. Damit bekam das Posting und das dabei verwendete Hashtag einen großen Aufmerksamkeitsschub und wurde durch die enorme Reichweite des Rappers gepusht. Dass seine Reaktionen für große Teile des Publikums eher nicht den Vorstellungen von Konfliktlösungen im Rap-Business entsprachen, bot weiteren Anlass für Anschlusskommunikation, in der der Rapper kritisiert oder lächerlich gemacht wurde und das Thema weiter anschob. Entscheidend wirkte sich auch aus, dass eine kleine Gruppe rechter Accounts die Gelegenheit, die sich hier aus ihrer Sicht ergab, instinktiv erkannte und die Kontroverse weiter befeuerten. Auch der Wuppertaler AfD-Account reagierte auf die unvorhergesehene Aufmerksamkeit nicht etwa durch Konfliktvermeidung (etwa durch Löschung des von Fler beanstandeten Tweets), wie es bei einem offiziellen Parteiaccount vielleicht zu erwarten gewesen wäre, sondern beteiligte sich mit ironischen Postings weiter an den Auseinandersetzungen.

Von zufälliger Dynamik zur Kampagne

Diese kleine Gruppe von rechten Accounts, die sich um Accounts wie die der Blogger Miró Wolsfeld (@unblogd) oder Shlomo Finkelstein (@shlomo96) gruppieren, die aber auch altgediente Akteure des identitären Milieus wie Martin Sellner (@MSLive_aut) umfasst wie auch unbekanntere Accounts, die bislang noch nicht in Erscheinung getreten sind, erkannte, dass sich hier eine Gelegenheit bot, die spontan und ungeplant entstandene Dynamik um Flers Reaktionen auf eigentlich unbedeutende Tweets einer AfD-Ortsgruppe zu nutzen und in eine (halbwegs) koordinierte Massenaktion zu überführen. Dazu gehörte: Die Verständigung auf ein gemeinsames Erscheinungsbild, was insbesondere durch den Austausch der Profilbilder mit schwarz-rot-goldenem Hintergrund und die Verwendung der Nationalfarben in Memes und Bildern erreicht werden sollte. Hierzu wurden innerhalb kürzester Zeit Generatoren zur Verfügung gestellt, mit denen das eigene Profilbild vollautomatisch 'verstolzt' werden konnte. Geplant wurde weiterhin das Fluten der Sozialen Medien mit #Stolzmonat-Content ab dem 1. Juni und insbesondere die Kommentierung von Postings zum Pride Month, so dass dessen Anliegen überlagert wird. Innerhalb kürzester Zeit wurde auch eine Kampagnensite (stolzmonat.cc, aktuell [12.06.] nicht mehr erreichbar) erstellt, die die Kampagne erläutert und bewirbt und Vorlagen für die Beteiligung zur Verfügung stellte etc.

  • Screenshot 2 Stolzmonat
    Screenshot 2
  • Screenshot 3 Stolzmonat
    Screenshot 3
  • Screenshot 4 Stolzmonat
    Screenshot 4

Interessant ist, dass in dieser Phase #Stolzmonat zwar schon regelmäßig verwendet wurde (und auch die Planungen und Aufrufe zur Beteiligung dieses Hashtag vorsahen), die ursprüngliche Kontroverse um Fler und die sich hier entwickelnde Dynamik jedoch im Wesentlich mittels des Hashtags '#hartundstolz' vernetzt wurde. Dieses wäre jedoch für die (geplante) Massenaktion untauglich gewesen, da es zu sehr mit dem konkreten Ausgangspunkt verknüpft ist und ohne Kenntnis dieses Hintergrundes für Außenstehende unverständlich bleibt, so dass es mit Beginn der Kampagne ab dem 1. Juni in den Hintergrund trat.

  • Abbildung 1 Stolzmonat
    Zeitverlauf #Stolzmonat und #hartundstolz
  • Screenshot 5 Stolzmonat
    Screenshot 5
  • Screenshot 6 Stolzmonat
    Screenshot 6

Die folgenden Tage waren geprägt von (weiteren) massenhaften Postings in den Sozialen Medien (wobei Twitter das klare Zentrum der Kampagne war) und tausende Accounts beteiligten sich am Stolzmonat. Besonders die Kerngruppe erstellte auch immer aufwändiger produzierten Content, so z.B. professionell produzierte Videotrailer. Auch in den Medien wurde der Stolzmonat Thema und vereinzelt breitete sich das Phänomen in andere Länder aus. Der Versuch, den Stolzmonat in eine internationale Bewegung zu überführen, ist aber (bislang) gescheitert.

Momentan ist zu beobachten, dass versucht wird, den Trend ins analoge Alltagsleben zu übertragen. Hierbei scheinen ehemalige Ortsgruppen der Identitären Bewegung eine zentrale Rolle zu spielen, die z.B. Deutschlandflaggen an markanten Orten oder Sehenswürdigkeiten anbringen. In Düsseldorf wurden von einer identitären Gruppe Plakate aufgehängt, die sich unter Verwendung von #Stolzmonat gegen Queerness richten (transsexuelle Kinder werden als Ergebnis einer „kranken Ideologie“ präsentiert). Darüber hinaus werden Stolzmonat-Artikel wie insbesondere Aufkleber auch über die Kanäle der Jungen Alternative vertrieben.

  • Screenshot 7 Stolzmonat
    Screenshot 7
  • Screenshot 8 Stolzmonat
    Screenshot 8
  • Screenshot 9 Stolzmonat
    Screenshot 9
  • Screenshot 10 Stolzmonat
    Screenshot 10
  • Screenshot 11 Stolzmonat
    Screenshot 11
  • Screenshot 12 Stolzmonat
    Screenshot 12

Vor diesem Hintergrund kann der bisherige [Stand: 12.06.2023] Verlauf der Kampagne grob in sechs Phasen aufgeteilt werden:

 

1. Phase

Anlass / Initialmoment

Kontroverse Fler vs. AfD

2. Phase

Aufmerksamkeits-generierung

Beteiligung einzelner Akteure der Kerngruppe, Entstehung von Aufmerksamkeit, Registrierung damit verbundener Möglichkeiten für strategische Kommunikation

3. Phase

Konzeptions- und Vorbereitungsphase

Communityinterne Koordination, Bereitstellung von Profilbildgeneratoren, Vorlagen, der Kampagnensite etc.

4. Phase

Virale Phase

explosionsartige Verbreitung des Contents, Beteiligung hunderter Accounts (auch über die rechte Onlinecommunity hinaus), Beteiligung der AfD und weiterer rechter Gruppierungen

5. Phase

Reaktionen und Anschlussthemati-sierungen

#Stolzmonat wird Thema in den Medien und ('unpolitischer' Öffentlichkeit).

6. Phase

Stolzmonat offline

Versuche, die Bewegung in die „reale Welt“ zu übertragen.

Relevante Akteure

Wie oben angedeutet, kann der 'Stolzmonat' nicht als zentral koordinierte und geplante Kampagne betrachtet werden (auch wenn Medienberichte teilweise genau dies behaupten). Es handelt sich vielmehr um eine originäre Social-Media-Dynamik, in der eine überschaubare Gruppe von Akteuren mit ausgeprägtem Verständnis für die Mechanismen der Aufmerksamkeitsgenerierung in Sozialen Medien ein ungeplantes (und eigentlich alltägliches und triviales) Diskursereignis geschickt nutzen konnten. Internetphänomene wie der Stolzmonat lassen sich kaum von außen prognostizieren oder von den Beteiligten selbst erzeugen, sondern beruhen zum größten Teil auf unkontrollierbarer Massendynamik. In diesem Gefüge lassen sich grob die folgenden Akteursgruppen unterscheiden, zwischen denen große fließende Übergänge bestehen:

  • Als zentrale Akteursgruppe des viralen Hashtagphänomens lässt sich daher als erstes die Kerngruppe politischer Akteure benennen, die das Potenzial der Ausgangssituation erkannten und (erfolgreich) versuchten, dieses in die Kampagne im Juni zu überführen. Hierbei ist auffällig, dass zentrale Akteure des Stolzmonat langjährige Onlineakteure des Milieus sind, die über vielfältige Erfahrungen im rechten Online-Aktivismus verfügen und bei denen kommunikationsstrategische Orientierungen (primär im Sinne der Metapolitik und mit ihr assoziierter Diskursstrategien) vorausgesetzt werden können. Mit Heidrun Kämper bezeichenen wir diese Gruppe als Diskurselite: Es handelt sich um Akteure, die den Diskurs ihrer Communitiy thematisch und praktisch maßgeblich gestalten und die damit für die kollektive Handlungsfähigkeit einer Online-Community unerlässlich sind (vgl Kämper 2017). Auffällig ist hierbei auch, dass die zentralen Akteure, um die sich der Stolzmonat entwickelte, zum größten Teil originäre Online-Aktivisten sind, die in der analogen rechten Szene (z.B. als Autoren in rechten Publikationen) kaum auffallen. Zentrale Austausch- und Reflexionsformate sind hier neben dem direkten Austausch auf Plattformen wie Twitter Podcastformate wie die „Honigwabe“ oder „Martin-Sellner-Live“, die auf 'deplatformingsicheren' Plattformen wie Odysse oder D-Live primär dem szeneinternen Austausch dienen.
  • Als zweite Gruppierung spielen (reichweitenstarke) Akteure und Institutionen des rechten Milieus eine Rolle: Diese besorgten durch ihr Aufspringen auf den bestehenden Trend eine schnelle Verbreitung des Hashtags und brachten das Phänomen auf die Timelines Tausender Social-Media-Nutzer. Insbesondere sind hier große Teile der AfD zu nennen, von der sich sowohl viele Repräsentanten als auch Parteiaccounts am Stolzmonat beteiligten. Aber auch Gruppen aus dem Vorfeld oder dem neurechten Milieu beteiligten sich.
  • Drittens sorgt eine große Gruppe reproduzierender Accounts für die massenhafte Verbreitung des Hashtags und mit ihm assoziierten Contents. Diese Accounts partizipieren nicht an der Koordination und sie erstellen keinen wirklich neuen Content, sie sorgen aber für die massenhaften Verbreitung der Inhalte und sind so entscheidend für die 'Viralität' des Phänomens (etwa durch das Posten eigener Tweets oder Memes nach bekannten Mustern, aber auch z.B. durch Retweets oder das Liken von Content etc.).
  • Erwähnenswert sind abschließend User, die Anschluss- oder Metakommunikation betreiben. Es handelt sich oftmals um Accounts, die sich mit der Stoßrichtung des Hashtags nicht identifizieren und auch nicht mit den Zielen des rechten Milieus sympathisieren, sondern die dem Phänomen in irgendeiner Form begegnet sind und darüber kommunizieren. Auch derartige Postings tragen zur algorithmisierten Verstärkung von Hashtagdynamiken bei.

Typischer Content

Die Postings, die sich am Hashtag beteiligten, weisen einige inhaltliche und visuelle Gemeinsamkeiten auf:

  • Thematisch dominieren Postings, die in unterschiedlicher Art und Weise vor den Gefahren von offen gelebter und propagierter sexueller Diversität und einer damit verbundenen (Trans-, Gender-, LGBTQI- oder Woke-) 'Ideologie' warnen (insbesondere im Hinblick auf Kinder) und die Ablehnung dessen propagieren. Zweiter Motivbereich ist die Artikulation von 'Stolz' auf die eigene Nation. Bei beiden Themenkreisen geht es erkennbar nicht darum, argumentativ zu überzeugen (auch wenn es neben visuellen Vorlagen auch argumentative Schablonen gab, wie der Screenshot 20 zeigt). Die Postings zielen erkennbar auf die Demonstration einer rein quantitativen Dominanz im öffentlichen Raum.
  • Visuell sind beteiligte Postings durch die dominante Gestaltung mit den Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold identifizierbar, wozu auch die einheitliche Verwendung eines Profilbildhintergrundes zählt. Die Farben sind hier dem karikierten Vorbild der Pride-Flag entsprechend oft in Abstufungen differenziert dargestellt, was ein einheitliches Erscheinungsbild der Kampagne andeutet.
  • Ausgesprochen typisch für Beiträge zum Stolzmonat sind auch Bezüge zur (rechten) Netzkultur und insbesondere die Verwendung von Memes. Die Galerie zeigt eine kleine Auswahl typischer Memes, die im Kontext des Stolzmonats gepostet wurden.

 

  • Screenshot 13 Stolzmonat
    Screenshot 13
  • Screenshot 14 Stolzmonat
    Screenshot 14
  • Screenshot 15 Stolzmonat
    Screenshot 15
  • Screenshot 16 Stolzmonat
    Screenshot 16
  • Screenshot 17 Stolzmonat
    Screenshot 17
  • Screenshot 18 Stolzmonat
    Screenshot 18
  • Screenshot 19 Stolzmonat
    Screenshot 19
  • Screenshot 20 Stolzmonat
    Screenshot 20

Erfolgsbedingungen und Folgen

Abschließend soll kurz reflektiert werden, was die wesentlichen Rahmenbedingen waren, die den Erfolg der Hashtagkampagne für die rechte Onlinecommunity ermöglichten. Denn dass #Stolzmonat in der Community als großer Erfolg gesehen wird und Teile des Lagers in eine geradezu euphorische Stimmung versetzt hat, ist nicht zu übersehen.

Als zentraler Faktor, der den Stolzmonat ermöglicht hat, ist die (fast völlige) Abwesenheit von technischen und administrativen Beschränkungen zu nennen, die die rechte Onlinecommunity in den letzten Jahren deutlich eingeschränkt hatte. Die neue Twitteradministration unter Elon Musks Regie scheint hier im Hintergrund für neue Rahmenbedingungen gesorgt zu haben (was von außen kaum objektiv überprüft, sondern allein aufgrund der praktisch sichtbaren Folgen vermutet werden kann). Offenkundig ist jedenfalls, dass viele der in der 'Kerngruppe' beteiligten Akteure zwischenzeitlich von Deplatforming betroffen waren und erst unter Musk auf die Plattform zurückkehren konnten (z.B. Shlomo Finkelstein oder Martin Sellner). Auch scheint es weniger algorithmisierte Beschränkungen beteiligter Akteure (z.B. durch 'Shadowbanning', also die Einschränkung der Sichtbarkeit ohne Löschung der Profile) und des Hashtags selbst gegeben zu haben – etwa durch die Entfernung aus den Twittertrends, deren Spitze #Stolzmonat in den ersten Tagen des Juni erklimmen konnte. Der Stolzmonat stellt somit auch die erste Kollektivaktion eines rekonstruierten rechten Twittermilieus dar, das nach jahrelangen Restriktionen aktuell wieder unlimitiert agieren kann. 

Auch das gemeinsame Agieren der Kerngruppe beteiligter Online-Aktivisten, die nicht nur die sich bietende Gelegenheit erkannten, sondern auch praktisch die Überführung der entstandenen Dynamik in die Kampagne organisierten, ermöglichte erst das Massenphänomen. Die Möglichkeit, als kollektiver Akteur kampagnenfähig agieren zu können, beruht primär aus geteilten grundsätzlichen Zielsetzungen und Orientierungen (Fokussierung auf vorpolitische Öffentlichkeiten im Kontexte der Metapolitik) sowie dazu tauglichen Mitteln. Zudem muss erwähnt werden, dass der Content, den die Kerngruppe zu Beginn der Kampagne produziert und zur Verfügung gestellt hat, teils auf hohem Niveau umgesetzt wurde und technisch wie gestalterisch ansprechende Ergebnisse brachte: Hier wird eine professionalisierte Form des Online-Aktivismus betrieben.

Auch das Thema, um das sich die Kampagne drehte, überbrückte die Differenzen und Kontroversen des rechten Lagers. Während andere Themen erbitterte Lagerkämpfe entfachen können, ist die Ablehnung der 'LGBTQI-Ideologie' ein alle Teile des rechten Lagers umspannender Konsens. Und nicht zuletzt spielte wohl auch die Einbettung in die übergeordnete politische Diskursdynamik eine Rolle, bei der sich eine gegenseitige Verschränkung mit dem aktuellen Aufschwung, den die AfD aktuell in den Wahlprognosen erfährt, ergibt.

In der Selbstwahrnehmung der meisten rechten Twitteruser stellt die Kampagne #Stolzmonat einen enormen Erfolg dar, der zudem für viele ganz unerwartet kam. Martin Sellner bewertete die Aktion als „größten metapolitischen Erfolg des Jahres 2023“. Sein Co-Host Friedlich Langberg zeigte sich auf Twitter über die neuen Machtverhältnisse, die Rechte angesichts des Erfolges des Stolzmonats wahrnehmen, überrascht:

War seit meiner Löschung vor ~3 Jahren nicht mehr auf Twitter und habe es nie vermisst. Aber OIDA, das ist ja geil geworden hier! Lauter stolze Leute... Hätte ich das nur früher gewusst!

@f_langberg 1. Juni 2023 twitter.com

Zwei Tage später folgte ein Tweet, der die Hoffnungen, die sich für viele Rechte mit der erfolgreichen Kampagne verbinden, exemplarisch formulierte. Dutzendfach äußerten sich rechte User in ähnlicher Weise:

So, wie Twitter sich verändert hat, können wir die ganze Gesellschaft verändern! Stellt euch vor: In 2, 3 Jahren überall Deutschlandfahnen, wo jetzt Regenbogen hängen. Und in der Zeitung jeden Tag Rekordzahlen über Abschiebungen, statt über Messermorde. Es ist machbar!

@f_langberg 3. Juni 2023 twitter.com

Alter, ihr seid doch krank. Am Anfang des #Stolzmonat hatte ich nicht mal 100 Verfolger. @shlomo96 ist jetzt bei 17k. Es fühlt sich an wie 2016/2017 auf Youtube. Das ist wirklich die konservative neue deutsche Welle.

@Germane_01 8. Juni 2023 twitter.com

Große Teile des rechten Milieus befinden sich aktuell (Juni 2023) – auch vor dem Hintergrund der Umfrageergebnisse der AfD – in einer euphorischen Stimmung. Tatsächlich gelang es, den öffentlichen Raum Twitter für einige Tage mit eigenen Inhalten zu dominieren und Beiträge zum Pride Month zumindest zu stören. Die Ausweitung zu einem internationalen Phänomen, um die sich zentrale Akteure bemüht hatten, kann trotz einiger Rezeptionsmomente im internationalen Rahmen als gescheitert betrachtet werden. Ob es gelingen wird, die Dynamik, die sich im  #Stolzmonat gezeigt hatte, zu verstetigen und in die analoge Welt zu übertragen, wird sich zeigen.

Zum Weiterlesen

Das Kompetenznetzwerk Rechtsextremismusprävention der Amadeu Antonio Stiftung präsentiert eine zusätzliche Analyse zum #Stolzmonat: 

Zitierte Literatur

  • Rüdiger, Jan Oliver (2022): CorpusExplorer – Eine Software zur korpuspragmatischen Analyse (Dissertationsschrift) erschienen OpenAccess bei KOBRA.
  • Kämper, Heidrun (2017): Personen als Akteure. In: Roth, Kersten Sven; Wengeler, Martin; Ziem, Alexander: Handbuch Sprache in Politik und Gesellschaft. Berlin, Boston: De Gruyter. 259-279.